: Auf dem Holzweg zurück?
In Frankfurt a.M., der Hochburg geselliger Abstraktion, diskutierte man den allgemeinen Rückschritt ins Konkrete. Ein Bericht ■ Von Frederico Hermanin
Der Kongreß „Gemeinschaft und Gerechtigkeit“, organisiert von der sich noch im pränatalen Zustand befindlichen Frankfurter Akademie der Künste und Wissenschaften, hatte sich viel vorgenommen. Das Thema sollte aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet werden: die sogenannte Kommunitarismus-Debatte im Mittelpunkt, Ferdinand Tönnies Soziologie-Klassiker Gemeinschaft und Gesellschaft im Hintergrund, das Verhältnis zwischen Subjektivität und Gemeinschaft en passant und die juristische Problematik der Volkssouveränität als Ausblick. War es zuviel des Guten (und des Gerechten)? Die Antwort ist eindeutig: Ja.
Irreführend erwies sich vor allem der Einstieg in die Diskussion über das Tönniesche Werk. Denn die Fragen, die die sogenannten Kommunitaristen in der US-amerikanischen politischen Auseinandersetzung aufgeworfen haben, sind ganz anderer Natur. Zum Beispiel: Können moderne Gesellschaften ohne solidarische Beziehungen, die sich nicht auf universalistisch begründete Freiheitsrechte reduzieren lassen, auskommen? Oder: Erfordert die Demokratie nicht eine Beteiligung der Bürger am politischen Leben, die sich nicht in der Beachtung von Regeln erschöpft, sondern eine Identifikation mit gemeinsamen Werten voraussetzt? Ausgehend von diesen Fragen haben Alasdair McIntyre, Charles Taylor, Michael Sandel, Michael Walzer und Robert Bellah, um nur einige Namen zu nennen, das ökonomistisch-liberale Selbstverständnis der USA kritisiert, indem sie mit unterschiedlichen Akzenten Bedingungen und Möglichkeiten gemeinschaftsfähiger, solidarischer und ziviler Lebensformen analysierten. Tönnies abstrakte Gegenüberstellung von fundamentalen Begriffen (die wahrscheinlich von den Organisatoren als mögliche Vertiefung gedacht war) stellte sich als billige Verdeutschung heraus, die die Diskussion, wie Charles Taylor monierte, von ihrer konkreten Ausgangsfrage ablenkte.
Ein weiterer Mangel der Tagung war zweifellos, daß die Hauptakteure fehlten. Walzer und Bellah hatten abgesagt. Charles Taylor war anwesend, aber seine brillante Rekonstruktion der Elemente, die unseren Begriff der Zivilgesellschaft bestimmen — er unterschied zwischen dem vorpolitischen Moment bei Locke und den politisch-assoziativen Aspekten bei Montesquieu und Tocqueville — fand kaum Widerspruch. So konnte man zwar interessante Beiträge über eine ferne Kontroverse zur Kenntnis nehmen, die Debatte selbst wurde aber nicht direkt weitergeführt.
Man konnte übrigens auch Beiträge hören, die mit dem Thema der Tagung sehr wenig zu tun hatten: Deren Anhäufung, als ob man einem Horror vacui erlegen wäre, verhinderte eine eingehende Prüfung einzelner Fragen und schränkte die Teilnahmemöglichkeiten des zahlreichen und aufmerksamen Publikums ein.
Einige Vorträge freilich bestachen durch ihre Originalität und Konsequenz. Albrecht Wellmer (Berlin) erkannte in seinem thematischen Hauptvortrag den Kommunitaristen als Vertretern der kulturellen Besonderheit und des zivilen Republikanismus nur die Rolle eines Stachels zu. Der richtig verstandene Kommunitarismus sei der richtig verstandene Liberalismus. Die Tradition der partizipatorischen Demokratie sei mit der Entfaltung der Grundrechte wesentlich verknüpft, die inzwischen zur „internen Grammatik“ unseres demokratischen Selbstverständnisses gehören. Heute komme es in den westlichen Gesellschaften darauf an, die Grundrechte sozial zu untermauern. Aber die Globalisierung von Politik, Ökonomie und Technologie dulde keinen partikularen Bezugspunkt mehr, sei es ein nationalstaatlicher oder ein gesamteuropäischer. Die drohende Umweltkatastrophe und die weiterhin bestehende Differenz zwischen Bürgerrechten und Menschenrechten sei Herausforderung für die entwickelten Länder. Würden sie diese Probleme nicht lösen, könnten sie faktisch und moralisch nicht überleben.
Axel Honneth (Konstanz) war der einzige unter den deutschen Teilnehmern, der sich eindeutig auf die Seite der Kommunitaristen schlug, indem er vorschlug, den überstrapazierten, aber undeutlichen Begriff der Solidarität zu präzisieren: Wenn die Autonomie des einzelnen, wie in den liberalen Freiheitsrechten garantiert, eine unverzichtbare Voraussetzung der modernen Gesellschaft sei, so bedürfe das Individuum zu seiner Selbstverwirklichung der Wertschätzung der anderen. Eine symmetrische und reziproke Wertschätzung von Eigenschaften und Leistungen könnte die solidarische Grundlage zur individuellen Selbstentfaltung konstituieren, die die atomisierten modernen Subjekte aus dem eisernen Käfig des gegenseitigen Mißtrauens und des zwanghaften Konkurrenzkampfes befreien würde. Die Kriterien dieser solidarischen und nicht hierarchischen Wertschätzung wären im Licht gemeinsam geteilter Ziele und Werte zu entwickeln.
Die Aristotelikerin Martha Nußbaum (Providence) überraschte schließlich die Frankfurter HörerInnen, für die Aristoteles der Inbegriff des teuflischen Relativismus darstellt, mit einer stark universalistischen Theorie des Guten, die sie gleichzeitig als „dicht“ (im Sinne von inhaltlich und nicht formal) und „vage“ (damit der Mensch seine wesentliche Funktion der Wahl ausüben kann) bezeichnete. Nach der Veröffentlichung des faszinierenden Buchs The Fragility of Goodness hat die amerikanische Philosophin mit dem indischen Ökonom Amartya Sen eng zusammengearbeitet, und ihr Beitrag steht im Zusammenhang mit der UNO-internen Diskussion zur „menschlichen Entwicklung in transkultureller Perspektive“.
Wie man hörte, werden alle Beiträge in einem vom Fischer Verlag veröffentlichten Band nachzulesen sein.
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