: „Militanz ist politisch sinnvoll!"
■ Dokumentation eines Schreibens aus dem „Widerstand“, einer Gruppe, die dem RAF-Umfeld zugerechnet wird
(...) Wir haben am 22.4.92 gesagt: „Der Kampf geht gemeinsam weiter.“
Wir wollen jetzt (22.5.92) genauer sagen, welche Notwendigkeit/ Bedeutung militanter Widerstand in der BRD hat. Wir verstehen dies auch als Antwort auf das, was die Genossinnen aus der Guerilla am 10.4.92 formuliert haben. Wir akzeptieren die Entscheidung der Genossinnen als Entscheidung, die sie für sich treffen. Zugleich kritisieren wir das, was in ihrer Erklärung in einer ganzen Reihe von Passagen politisch zum Ausdruck gebracht wird, in scharfer Form. Zur Klarstellung: Die taz irrt, wenn sie uns in ihrer Ausgabe vom 25.4.92 als „RAF- Splittergruppe“ bezeichnet. Wir begreifen uns als Teil des Widerstands in der BRD. Wir haben unsere eigenen Formen militanter Politik und werden diese weiterentwickeln. Sonstige Spekulationen überlassen wir jenen, die die Verfolgung von Menschen, die in der BRD Widerstand leisten, ihren Beruf nennen.
„Wir haben eigene Formen militanter Politik“
Während die Herrschenden aus dem, was sie das „Ende der RAF“ nennen, das Ende des militanten Widerstands in der BRD schlußfolgern und dies, propagandistisch aufbereitet, in ihren Medien verkünden lassen, ist unsere Vorgehensweise diametral entgegengesetzt: wir wollen aus den theoretisch/praktischen Erfahrungen der Guerilla (und das heißt eben auch: aus ihren Fehlern) lernen und zur Weiterentwicklung von militanter Politik in diesem Land beitragen. Dies geschieht zu einer Zeit, in der die Totalität des Systems den Menschen, die hier nach einer gesellschaftlichen Alternative suchen, praktisch keinen realen Freiraum mehr läßt.
In den 22 Jahren, in denen die ROTE ARMEE FRAKTION bewaffnet gekämpft hat, zeigte sie immer wieder, daß Angriffe auf das Herz des Staates auch in der BRD, d. h. in einer der hochgerüsteten Zentralen des imperialistischen Gesamtsystems, möglich sind. In den letzten Jahren waren diese Angriffe nicht mehr Bestandteile einer Strategie, ohne die revolutionäre Politik aber nicht möglich ist. Dafür trägt die Guerilla nicht allein die Verantwortung, sondern es sind Versäumnisse von allen, für die „zusammen kämpfen“ keine hohle Phrase ist.
Es sind also nicht die Angriffe, die wir kritisieren; dadurch, daß sie nicht in eine umfassende Politik eingebettet waren, konnten die Angriffe ihre potentielle politische Wirkung nicht mehr entfalten. Trotzdem: über die gelungenen Aktionen gegen Herrhausen und Rohwedder haben sich mehr Menschen still und heimlich gefreut, als es die Genossinnen vermuten und die Herrschenden zugeben wollen. (...)
Für uns steht die inhaltliche Bestimmung revolutionärer Politik im Vordergrund. Selbstverständlicher Bestandteil dieser Politik ist weltweit der Kampf für die Freiheit der Genossinnen, die in den Knästen/Lagern des Imperialismus sitzen.
Was die Genossinnen betrifft, die von der BRD gefangen gehalten werden, sind unsere Forderungen: Freilassung aller Gefangenen aus RAF und Widerstand in einem überschaubaren Zeitraum, insbesondere die sofortige Freilassung von Isabel, Ali und Bernd, die haftunfähig sind! Sofortige Zusammenlegung der Gefangenen aus RAF und Widerstand! Keine neuen Prozesse gegen Genossinnen, die bereits im Knast sitzen! Angelika und Ute dürfen nicht erneut eingeknastet werden! Für die ausländischen Genossinnen: sofortige Freilassung und die Möglichkeit, in ein Land ihrer Wahl ausreisen zu können!
Die Guerilla hebt in ihrer Erklärung die „Fraktionierung“ der Staatsschutzapparate in einer Weise hervor, die wir für unangebracht halten. Einheitliches Ziel der Strategen wie Stahl (BAW; Anm. d. Red.: Bundesanwaltschaft), Werthebach (BfV; Anm. d. Red.: Bundesamt für Verfassungsschutz) und dem mittlerweile zum Außenminister avancierten Kinkel ist die Befriedung der Verhältnisse im Innern der BRD, d.h. der Auftrag der herrschenden Eliten an die Politik lautet:
Es darf keinen sichtbaren Widerstand geben, der in der Lage wäre, der Totalität des Sytems eine Grenze zu setzen. Die Staatsschutzapparate sind aber mit der Tatsache konfrontiert, daß das Mittel der Vernichtungshaft für dieses Ziel nur bedingt tauglich ist. Kinkels Initiative ist der Versuch, für eine längere Phase den Widerstand in der BRD zu lähmen, in der Hoffnung, ihn letztendlich beseitigen zu können.
„So lange das System unterdrückt, gibt es Widerstand“
Für Kinkel sind die Gefangenen nur Mittel zum Zweck; die Menschenverachtung seiner Politik wird in manchen seiner Äußerungen, in denen er die Geiselfunktion der Gefangenen kaum noch verschleiert, sehr deutlich. Die in der KGT (Koordinierungsgruppe Terrorismusbekämpfung; Anm. d. Red.) koordinierten Figuren glauben, die Menschen, über die der Staat im Knast unmittelbare Verfügungsgewalt hat, gegen die Menschen ausspielen zu können, die gegen dieses System aufstehen. Das ist der Kern des Befriedungskalküls. Kinkel nannte unser erstes Schreiben ein „Störmanöver“ gegen seine Politik. Was Karrieristen wie er offenbar nicht begreifen können: es ist das System selbst, aus dem die Widersprüche kommen. So lange das System hier und weltweit Menschen unterdrückt, wird es Widerstand dagegen geben.
Die Tatsache, daß wir in einem Land kämpfen, in dem es bisher keine einzige erfogreiche und zugleich befreiende Revolution gab, in einem Land, in dem als besonders bösartige Variante des Faschismus der „Nationalsozialismus“ regieren konnte, in einem Land, in dem es nur spärliche Widerstandstraditionen gibt, erhöht die Bedeutung von Kontinuität im Widerstand.
(...) Militanter Widerstand in der BRD hat als strategisches Ziel: die Verbindung herstellen zwischen den Kämpfen im Trikont und dem, was hier (potentiell) an Widerstand vorhanden/entwickelbar ist. Wir wollen das näher erläutern.
Zum einen: angesichts des Ausmaßes an Ausbeutung/Vernichtung menschlicher Existenz im Trikont ist es die verdammte moralische Pflicht von allen, die sich in der BRD als linksradikal begreifen, hier immer neu zum Angriff zu kommen. Deshalb verstehen wir auch das Entsetzen der ausländischen Genossinnen, mit denen wir geredet haben, über die Erklärung der Guerilla; sie können nicht verstehen, wie Genossinnen, die wissen müßten, daß der Krieg, den die imperialistischen Eliten gegen die Menschen im Trikont führen, jeden Tag weitergeht, es vor sich selbst verantworten können, den bewaffneten Kampf in der BRD einzustellen.
In einer Front mit denen, die im Trikont Widerstand leisten, zusammen kämpfen!
Zum anderen: wir müssen ausgehen von der aktuellen gesellschaftlichen Realität in der BRD. Die relative Stabilität des Systems in den Metropolen beruht darauf, daß es den Herrschenden immer wieder gelingt, eine tatsächliche/vermeintliche Interessenidentität mit Menschen bis weit in den „Mittelstand“ zu erzeugen.
(...) Auszugehen haben wir von den sozialen Konflikten/Stimmungslagen, die es in den „unteren Schichten“ dieser Gesellschaft gibt; und hier ist die Situation z.B. so: im Asylbewerberheim Hünxe erleidet die achtjährige Zeinap beim Überfall einer Skin-Clique so schwere Verbrennungen, daß sie ihr Leben lang entstellt bleiben wird; in Magdeburg wird der 23jährige Torsten auf einer Geburtstagsfeier von einem Skinhead erschlagen; ein 28jähriger Iraner verhindert seine drohende Abschiebung in die Türkei auf dem Weg zum Rhein-Main-Flughafen, indem er sich im BGS-Fahrzeug die Pulsadern aufschneidet; (...) in der BRD nehmen sich „statistisch“ pro Tag vier Jugendliche das Leben.
(...) Auszugehen haben wir von dieser Realität in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit. Auszugehen haben wir von den Mechanismen, mit denen das System die Angst vor Armut (angesichts von drei Millionen Arbeitslosen und 352.000 Obdachlosen) für seine Zwecke funktionalisiert. (...) Die herrschende Politik entlarvt sich als das, was sie gegenüber dem Trikont sowieso ist: nämlich als menschenverachtend. Diese Politik versucht darauf hinzuwirken, daß sich Haß/Wut/Verzweiflung/ Resignation gegen die eigene Person oder gegen noch Schwächere richtet und nicht gegen die Herrschenden.
Indem militante Aktionen diese Strategie durchkreuzen, entfalten sie ihre politische Wirkung: aus der jeden Tag in der Metrople erfahrenen Destruktion menschlicher Werte heraus wird im Angriff auf die Eliten, die Konzerne, die Repressionsorgane usw. der Ausweg gefunden, d.h.: der Schritt vollzogen, ohne den es keine Freiheit geben kann.
Freiheit ist nur möglich im Kampf um Befreiung!
Alle Menschen, die in den Metropolen Widerstand leisten, entdecken, daß ihr Gegner im Kampf um Befreiung derselbe ist, gegen den die Völker im Trikont ein menschenwürdiges Leben zu erkämpfen versuchen.
Internationale Solidarität ist das, was die Herrschenden am meisten fürchten.
Wir wollen noch auf drei Einzelpunkte aus der Erklärung der Guerilla hinweisen, die nicht unwidersprochen bleiben dürfen.
„Ohne Angriff auf die Eliten kann es keine Freiheit geben“
Der erste Punkt betrifft den Zusammenbruch der Staaten, die sich „sozialistisch“ nannten. Die Guerilla stellt „katastrophale Auswirkungen für Millionen von Menschen weltweit“ fest. Das muß präzisiert werden: katastrophale Auswirkungen hat dieser Zusammenbruch tatsächlich für die Menschen etwa in Cuba oder Vietnam (ein Beispiel: 1991 erkrankten erstmals 1,1 Millionen Vietnamesen an Malaria, von denen 4.500 starben; bisher hatte die SU kostenlos für die Versorgung mit Medikamenten gesorgt). (...) Wenn die Guerilla feststellt, daß „alle, die rund um den Globus um Befreiung kämpfen, auf sich selbst zurückgeworfen“ wurden, so ist das schlicht falsch. Auch vor 1989 war klar: jedes Land entwickelt antiimperialistischen Widerstand aus seinen eigenen authentischen Bedingungen. Diejenigen, die 1992 überall auf der Welt genauso Widerstand leisten wie 1985 oder 1989, demonstrieren eindrucksvoll, daß die Unterstellung, sie würden völlig von den „sozialistischen“ Staaten abhängen und für deren Ziele arbeiten, im wesentlichen eine imperialistische Propagandalüge war.
Die Klarheit der Kronfrontation (auf der einen Seite der Imperialismus, auf der anderen Seite Menschen, die um Befreiung kämpfen) ermöglicht Revolutionärinnen hier und im Trikont ein neues Selbstbewußtsein!
Der zweite Punkt betrifft den Begriff „soziale Gefangene“, den die Genossinnen benutzen, sogar ohne das Wort „sozial“ wenigstens mit Anführunsgzeichen zu versehen. Wir lehnen diesen Begriff ab. Das Knastsystem der BRD ist ein spezifischer Ausdruck des Gesamtsystems, das wir bekämpfen.
„BRD ist Nachschublager für US-Imperialismus“
(...) Der dritte Punkt betrifft folgendes: die Guerilla formuliert, daß es „die Frage“ sei, „ob deutsche Soldaten wieder gegen andere Völker marschieren...“ Tatsache ist: auf der 33.Kommandeurstagung in Leipzig haben Figuren wie Rühe oder Naumann keinen Zweifel daran gelassen, daß sie langfristig bewaffnete Out- of-area-Einsätze der BRD- Streitkräfte anstreben. Entscheidend ist aber die derzeitige Rolle der BRD im Nato-Block: die neuen Stationierungsverträge implizieren, daß die BRD auf absehbare Zeit Durchgangsstation/Nachschublager für die weltweiten militärischen Interventionen des US-Imperialismus bleiben soll. Sogar abgesehen davon ist die Rolle der BRD eindeutig: mit 6.455 Milliarden Dollar gehört sie zu den vier größten Financiers des Golfkriegs. (...)
IN DER BRD SIND MILITANTE AKTIONEN NICHT NUR MORALISCH NOTWENDIG, SONDERN AUCH POLITISCH SINNVOLL! WIDERSTAND HEISST ANGRIFF!
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