: Polens Premier fällt über Stasi-Akten
Jan Olszewskis Regierung durch Mißtrauensvotum gestürzt/ Streit über Stasi-Agentenlisten/ Walesa fordert Rücktritt Olszewskis und nominiert Waldemar Pawlak, Chef der Bauernpartei, als Nachfolger ■ Von Klaus Bachmann
Warschau (taz) — Nur fünf Monate war sie im Amt, dann war es aus mit dem Vertrauen. In der Nacht zum Freitag wurde Polens Regierung vom polnischen Sejm (Parlament) zum Rücktritt gezwungen. Für einen Mißtrauensantrag gegen die Ministerriege von Jan Olszewski, der von der Opposition eingereicht worden war, stimmten 273 der Abgeordneten. 119 waren dagegen, 33 enthielten sich der Stimme. Gegen Olszewskis Regierung sprachen sich aus die Parlamentsfraktionen der Demokratischen Union, der Liberalen, des Polnischen Wirtschaftsprogramms, der Konföderation Unabhängiges Polen, der Polnischen Bauernpartei und Sozialdemokraten. Nur das Zentrum, die Christnationalen und die Bauernverständigung hielten der Regierung die Stange.
Zu der Abstimmung war es gekommen, nachdem am Donnerstag nachmittag bei Sejm-Marschall Wieslaw Chrzanowski ein Brief von Präsident Walesa eingegangen war. Darin hatte Walesa die „sofortige Abberufung des Ministerrats“ gefordert. Kurz zuvor erhielt der Präsident selbst ein Schreiben von Innenminister Macierewicz — mit einer Liste hoher Staatsbeamter. Sie alle seien Agenten der kommunistischen Geheimpolizei gewesen, hieß es.
Walesa kritisierte Macierewicz daraufhin, sich „gefälschter Materialien“ bedient zu haben. Im Laufe des Tages erhielten die Vorsitzenden der Parlamentsfraktionen ebenfalls geheime Agentenlisten des Innenministeriums. Polnischen Zeitungsmeldungen zufolge handelt es sich um insgesamt 67 Personen, von denen 17 Mitglieder der Bauernpartei und jeweils 7 der Demokratischen Union sowie der Christnationalen sein sollen. Der Rest der Personen verteilt sich auf das Präsidentenamt und die Regierung selbst.
Leszek Moczulski, sowie weitere Abgeordnete der Konföderation Unabhängiges Polen (KPN) warfen Innenminister Macierewicz vor, die Stasi-Akten zur Erpressung benutzt zu haben. Bei Verhandlungen mit der KPN über einen Beitritt zur Koalition Olszewskis, soll Innenminister Macierewicz gesagt haben, Moczulski sei einer der Stasi-Agenten.
Die KPN nahm den Vorfall zum Anlaß, für den Mißtrauensantrag zu stimmen, obwohl Moczulski bestritten hatte, jemals etwas mit der Geheimpolizei zu tun gehabt zu haben. Einzelne Abgeordnete äußerten ebenfalls heftige Zweifel an der Authentizität der Listen. Vor der Abstimmung über das von der Demokratischen Union eingebrachte Mißtrauensvotum versicherte Premier Olszewski noch einmal, er weigere sich zurückzutreten. Denn seine Regierung solle ja nur deshalb abgewählt werden, um die Aufdeckung der Spitzel zu verhindern.
Nur wenige Stunden nach der Abwahl Olszewskis hat Präsident Walesa den Chef der Polnischen Bauernpartei, Waldemar Pawlak, zum Premier nominiert. Pawlak entstammt der „Vereinigten Bauernpartei“, die sich 1989 zusammen mit der Demokratischen Partei Solidarnosc anschloß und die Regierung Mazowiecki bildete.
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