Umzug ist die beste Rationalisierung

■ Immer mehr Berliner Unternehmen wandern ins brandenburgische Umland ab/ Neue Arbeitnehmer zu günstigeren Ost-Tarifbedingungen eingestellt/ Veraltete Anlagen ausrangiert/ Senat: Berlin muß Industriestandort bleiben

Berlin. Was in westdeutschen Ballungszentren Jahrzehnte brauchte, geschieht jetzt in Berlin innerhalb kürzester Zeit: die Abwanderung von Unternehmen ins Umland. Und was die Brandenburger freut, nämlich der zügige Aufbau einer Industriestruktur vor allem im sogenannten »Speckgürtel« innerhalb des Autobahnringes, läßt die Berliner nicht unbedingt jubeln. Wenn es auch keine genauen Zahlen über das Ausmaß der Wanderungsbewegung gibt, so sind doch nach Schätzungen der IG Metall allein in der Metallbranche etwa 10.000 bis 12.000 Arbeitsplätze unmittelbar von dieser Entwicklung betroffen. »Wir lassen sie nicht gerne ziehen«, sagt Holger Hübner, Pressesprecher der Senatsverwaltung für Wirtschaft.

Es sind nicht nur die Steuern und die Arbeitsplätze, um die es ihm leid tut, vor allem der Trend gefällt nicht. »Berlin muß Industriestandort bleiben«, Ziel seiner Behörde ist es, das produzierende Gewerbe in der Stadt zu halten.

Zu schneller Abbau der Berlinförderung

Doch genau in diesem Punkt haben, so glaubt zumindest Uwe Hecht von der IG Metall, der Senat und die Bundesregierung versagt. Zu wenig wurde getan, um Unternehmen längerfristig an Berlin zu binden. Die Rahmenbedingungen stimmen nicht mehr, der zu schnelle Abbau der Berlinförderung in Verbindung mit dem rasanten Anstieg der Grundstückspreise lasse innerstädtische Standorte zunehmend weniger attraktiv werden. Entweder die Betriebe können die Pachtpreise nicht mehr bezahlen und müssen gehen, oder, was ebenfalls nicht selten vorkommt, ein Unternehmer als Besitzer eines Filetgrundstückes macht dieses schnell zu Geld und siedelt sich für einen Bruchteil der Verkaufssumme neu in Brandenburg an.

Beispiel: die Alu-Druckguß GmbH in Reinickendorf. Die Firma hat bereits in Brieselang eine Schwestergesellschaft gegründet, um ihren expansionsbedingten Flächenbedarf zu decken. In Berlin verblieben sind noch 170 Arbeitsplätze, deren Verlagerung ursprünglich nicht geplant war. Doch das scheint jetzt nicht mehr sicher, denn: »Der Senat setzt uns unter Druck«, behauptet Dr. Haman, Steuerberater der Firma. Der Mietvertrag für das Firmengelände läuft im nächsten Jahr aus, Verhandlungen mit dem dafür zuständigen Finanzsenator brachten bislang keine Ergebnisse. Die geplante Pachtpreiserhöhung wäre für die Alu- Druckguß zwar noch zu akzeptieren, keinesfalls aber eine weitere Senatsforderung. »Wir sollen«, so Dr. Haman, »ein weiteres Grundstück anmieten und auf unsere Kosten sanieren.« Das brachliegende Gelände ist im derzeitigen Zustand nicht nutzbar, die Sanierung würde Millionen kosten. Die Firma lehnte dankend ab, doch seitens des Finanzsenators sei bislang noch keine Kompromißbereitschaft erkennbar, sagt der Steuerberater, der auch den Grund kennt: »Die glauben immer noch, sie seien in der stärkeren Position.«

Die Rechnung geht zuungunsten Berlins aus

Dr. Haman macht kein Hehl daraus, daß einerseits der Abbau der Berlinförderung und andererseits die Subventionen der Brandenburger Landesregierung für Neuansiedlungen vielen Betrieben den Wegzug aus der Hauptstadt als die beste Alternative erscheinen läßt. »Wir müssen jetzt rechnen«, sagt er, und die Rechnung geht oft genug zuungunsten Berlins aus.

Allerdings oft genug auch zuungunsten der betroffenen ArbeitnehmerInnen. Wenn sie den Umzug mitmachen, haben sie längere Anfahrtswege in Kauf zu nehmen, bei immer noch unzureichenden Verkehrsverbindungen ins Umland ein zeit- und kostenintensives Unterfangen. Über betriebsinterne Vereinbarungen können die Folgen zwar etwas abgemildert werden, solange aber materieller Ausgleich für längere Anfahrtswege tarifvertraglich nicht festgeschrieben ist, haben ArbeitnehmerInnen die Folgen der Umsiedlung alleine zu tragen.

Doch das ist nicht alles. »Es kommen nie so viele Arbeitsplätze an, wie weggehen«, weiß Michael Böhm, Pressesprecher der Berliner IG Metall, aus seiner Erfahrung zu berichten. Ein Umzug ist die beste Form der Rationalisierung, viele Unternehmen entledigen sich bei dieser Gelegenheit gleich ihrer veralteten Anlagen. Dabei bleiben dann unter Umständen auch zahlreiche MitarbeiterInnen auf der Strecke. Neue können nun zu niedrigeren Löhnen eingestellt werden, solange Berlin und Brandenburg in unterschiedlichen Tarifgebieten liegen, ist das durchaus verlockend.

Was den ArbeitnehmerInnen noch vorenthalten bleibt, der Zusammenschluß zu einem Tarifgebiet, haben die Unternehmen in ihren Organisationen bereits vollzogen. Und so wundert es nicht, daß Friedrich Kästner von der Vereinigung der Unternehmensverbände Berlin/Brandenburg die Abwanderung ins Umland für einen völlig normalen Vorgang hält, der angesichts der wirtschaftlichen Gegebenheiten unvermeidbar ist. Allerdings müsse Berlin keine Angst haben, zuviel produzierendes Gewerbe zu verlieren. »Die enge Verbindung zwischen Produktion und Dienstleistung und andere Rahmenbedingungen wie die Nähe zu Hochschulen sind nach wie vor ein Potential für die Stadt«, sagt Kästner, der aber auch befürchtet, daß Berlin und Brandenburg nun verstärkt in Konkurrenzkampf treten könnten. Dagegen helfe nur eines: ein gemeinsames Bundesland.

Die meisten wollen in den »Speckgürtel«

Die Wirtschaftsverwaltungen haben das teilweise schon vorweggenommen. »Wir arbeiten eng mit dem Senat zusammen«, sagt Klaus Müller, Leiter der Ansiedlungsgruppe beim Potsdamer Wirtschaftsministerium. Wenn er auch Wettbewerb generell für gut hält, abgeworben werden Berliner Unternehmen mittlerweile nicht mehr, für Umsiedlungen gibt es seit Anfang des Jahres keine Förderungen mehr. Daß aber die meisten Unternehmen sich vor allem im Speckgürtel ansiedeln wollen, hält er mittlerweile für bedenklich: »Die Randregionen müssen ebenso unterstützt werden, Brandenburg ist schließlich größer als der Autobahnring.« Theo Weisenburger