: Gespräch über Bäume
Schweigen über den Ur-Wald — das wäre heute das Verbrechen ■ VON CAROLINE FETSCHER
Am Äquatorgürtel der Erde herrscht Regenwaldkrieg. Hunderttausende unbewaffneter Waldvölker, Indianer, Pygmäen und Punan sind ihm zum Opfer gefallen. Über die Hälfte der artenreichsten Flora und Fauna der Erde hat er verschlungen. Vitale Regionen des tropischen Gedächtnisses der Evolution wurden dabei ausgelöscht. Obwohl an vorderster Front die Bulldozer und Kettensägen der Tropenholzhändler wüten, sind konsequente Handelsembargos für Tropenhölzer tabu. Mythen aus der Kolonialzeit und wirtschaftliche Interessen versperren ihnen den Weg.
Regenwälder sind Sex. Das Abendland liest die Wälder, Flüsse und Deltas der Tropen als die sinnlichsten Zonen des Globus; als Symbole puren, unpervertierten Eros. So erlöst die Fahrt auf einem Dschungelstrom Humphrey Bogarts Mitreisende an Bord der African Queen von ihrer protestantischen Prüderie; im Ur-Wald der Verlorenen Schritte sucht Alejo Carpentier Spuren amazonischer Unschuld seines tropischen Liebespaares; Marguerite Duras pflanzt Liebende und Abenteurer in asiatische Tropentexte. Gebrauch von der Aura der Tropen machen sie alle, Schriftsteller, Künstler, Regisseure, Werbeleute.
Regenwälder — sinnlichste Zonen des Globus
Selten hat es in den Industrienationen mehr von Tropenzeichen gewimmelt als heute. Tukane, Papageien, Palmen und Orchideen exotisieren Textilien, Schulheftumschläge, Kaffeebecher, Kugelschreiber, Bettwäsche. Adam und Eva lassen den Apfel am Baum der Erkenntnis hängen und besteigen im Urwald der Kinoreklame ein kirschrotes Cabrio „made in paradise“; ein grasgrünes Chamäleon wirbt für ein Hamburger Lokalblatt; um die entblößten Schultern eines jungen Mannes windet sich auf Plakatwänden der massige Leib einer Python, die zur Zigarette verführen will.
„Dismembered remembering“, verhexter Sex scheint im Spiel, das Bannen eines Fluchs, die prophylaktische Beschwörung entwurzelter, aus ihrem Zusammenhang gerissener Fetische, die etwas repräsentieren, das endgültig verlorenzugehen droht. Entspringt, was tropisch auf Nylon, Wolle, Plastik, Papier und Blech sprießt, einem diffusen kollektiven Gedächtnis oder Gewissen?
Seit Brecht vor 50 Jahren An die Nachgeborenen schrieb, ein Gespräch über Bäume sei zu seiner Zeit „fast ein Verbrechen“, haben die Nachgeborenen die grüne Haut aus Wald zur Ware degradiert und sie der Erde Stück für Stück abgezogen. Kein Mensch überlebt den Verlust von zwei Dritteln seiner Haut. Was aber wird aus der Erde, wenn zwei Drittel ihrer grünen Haut abgehäutet sind? Kaum etwas ist inzwischen politischer als das „Gespräch über Bäume“, das Gespräch über Wetter, das Klima, die Tiere, die Pflanzen. Über Bäume zu schweigen: das wäre heute das Verbrechen.
Doch eine klare Sprache fehlt, die den Tropenwäldern Raum im politischen Diskurs gäbe. Seit die Schwindsucht der Wälder in den frühen achtziger Jahren Thema wurde, wird abwechselnd alarmiert und verdrängt. Das hat Gründe, und es ist von Vorteil, sie zu suchen.
Jahrhundertelang waren die Urwälder für das Abendland mythische Orte. Dämonisiert als grüne Hölle der Giftschlangen und der Verführung oder harmonisiert als süßliches Eden edler Wilder, wurden die Wälder erst wirtschaftlich realer, als sie zu Schatzkammern jener Kolonialherren avancierten, die im „Herz der Finsternis“ Eingeborene und Edelhölzer einschlugen; etwa zur Blütezeit des Kautschukbusineß um die Jahrhundertwende. Damals begannen tropische Edelhölzer, verarbeitet zu Mahagonitäfelungen und Palisandersofas, für den Komfort der Mutterländer zu sorgen.
Revolution im Tropenforst
Dank verbesserter Ausbeutungsverfahren bot sich das „Chaos“ der Wälder zu gleicher Zeit völlig neu dem sortierenden und selektierenden Auge des Holzhandels an, der die Stämme außer Landes schleppte. Auf einem Elefanten durch Burmas Teakwälder reitend, arbeitete der Bonner Botaniker Dietrich Brandis Mitte des letzten Jahrhunderts umwälzende Einschlagsberechnungen aus, deren forstpolitische Bedeutung noch in der aktuellen Debatte um Waldschwund und Waldschutz eine zentrale Rolle spielt. (Zu Kolonialzeiten „Hieb“ genannt, heißt das Plündern der Hölzer heute „Einschlag“.)
Verheerender Raubbau hatte zu jener Zeit die Teakwälder Südostburmas in den Provinzen Tenasserim und Martaban fast leergeschlagen; Brandis, 1856 in Burma eingetroffen, sollte Abhilfe schaffen. Der Privatdozent versprach dem Generalgouverneur der Provinz Pegu, Earl Dalhousie, „die Forsten zu schützen und soweit wie möglich zu verbessern, die Hiebe so zu führen, daß die Bestände nicht in ihrer Produktionskraft gemindert würden, um dadurch dauernd nachhaltige Holzanfälle sicherzustellen“.
Während burmesische Helfer ihm die gemessenen „Stammesstärken“ der Teakriesen zuriefen, notierte der innovative Forstmann auf dem Rücken seines Arbeitselefanten die Daten. Systematisch durchkämmte er den Wald, schätzte Holzmenge, Transportkosten und Wert. Das Prinzip dieser „Lineartaxation“ ist bis heute Grundlage der „Vorratsinventur“ in tropischen Wäldern. So konnte genauer geplant werden, wie viele Bäume leben und sterben sollten. Forstleute wollten und wollen in Brandis' Methode die entscheidende Revolution der Forstwirtschaft sehen.
Derartige „nachhaltige“ Nutzung von „Holzanfällen“ sollte trotz mannigfacher Hiebe dauerhaft Waldbestände sichern. Der Terminus „Nachhaltigkeit“ ist denn auch jetzt noch das Zauberwort der Tropenholzhändler, wo es um Holzeinschlag als Verursacher von Regenwaldzerstörung geht. Weltbankmanager, Politiker und Ökologen, mitunter sogar die Umweltaktionisten von Greenpeace lassen sich vom Mythos der „Nachhaltigkeit“ bis heute verwirren. In Wahrheit handelte es sich bei Brandis' Revolution überwiegend um eine, die die Effizienz und Lukrativität der Holzausbeute steigerte.
Während also der Welthandel florierte, krepierten immer mehr tropische Flora und Fauna — und mit ihnen gingen Aberhunderte von Eingeborenenstämmen, Sprachen, symbolischen Systemen — ganze Kulturen — zugrunde. Bisweilen leisteten die Eingeborenen aktiv oder passiv Widerstand gegen das Aberkennen traditioneller Land- und Nutzungsrechte sowie gegen „Einschlag“ in ihren Wäldern.
Die stetig steigende Vernichtungskurve steuerte nur zweimal im 20. Jahrhundert talwärts: als während beider Weltkriege zivile Transportschiffe eingezogen und Seefahrtswege blockiert waren.
Inzwischen sind jahrhundertealte Baumriesen in Urwäldern so rar wie Blauwale in den Ozeanen. „Nichts mehr von den schönen, großen Canoes, die man noch vor zehn Jahren hier sah“, schreibt Schweitzer am Golf von Guinea 1924. „Die großen Bäume, aus denen man sie macht, sind alle umgehauen zum Verkauf.“
In den Wir-sind-wieder-wer-Jahren, als sich Japan, die USA und Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg wirtschaftlich sanierten, gerieten mehr Stämme unter die Sägeblätter als je zuvor. Nach ihrer Unabhängigkeit übertrafen die Machteliten der Ex-Kolonien beim Ausweiden der Substanz ihrer eigenen Wälder die Potenz der Colons. Der strengen und engen Handelsverbindungen mit ihrem Kolonisator nunmehr entbunden, fanden sie weltweit Kundschaft.
Urwaldbäume inzwischen so rar wie Blauwale
Und süchtig nach Strukturanpassungskrediten zur „Entwicklungshilfe“, verhalfen sie sich zu dubiosen Wirtschaftswundern. Um 1950 verließen zum Beispiel 134.000 Kubikmeter grünes Gold das Land Elfenbeinküste. Sieben Jahre nach der Unabhängigkeit, 1967, waren es 2.173.000 Kubikmeter. Einst überreich an edlen Hölzern wie Sipo, Samba, Mahagoni, Iroko, Makoré, Bété, Tiama oder Framiré, büßte das westafrikanische Land fast 98 Prozent seines ursprünglichen Primärwaldes ein. Wohl sieht die Landschaft aus der Luft noch grün aus. Übrig ist jedoch nur Busch, kümmerliches, verkrüppeltes Gestrüpp, das kaum mehr das forstwirtschaftliche Etikett „degradierter Sekundärwald“ verträgt. „Le bois, c'est fini!“, „Mit dem Holz ist's aus!“ — lautet die häufig geseufzte Formel der Verzweiflung im mondänen Abidjan der Wolkenkratzer.
Als sei er ein Geschwür auf dem Körper der Erde, wurde wuchernder Urwald in der gesamten Tropenregion weggeschnitten. Sägewerke zerhäckselten in Brasilien, Ecuador, Costa Rica, Nigeria, Kamerun, Malaysia, Thailand und Burma uralte Bäume zu Sperrholzschnipseln für Spanplatten. Wo die Waldhaut abgezogen war, rollte man den Plantagenteppich aus. Kaffee, Kakao, Tabak monokulturisierten die Tropen. Noch die Attacke der GIs auf Vietnams Menschen und Regenwälder mit dem verseuchenden und entlaubenden Teufelsgift Agent Orange schreibt ein Kapitel dieser Geschichte.
Verkleidet als Zahlenspuk, abstrakt, unheimlich kommt der Waldmord heute daher. „Jährlich werden 20 Millionen Hektar Regenwald vernichtet.“ „Täglich gehen 1.000 Fußballfelder Regenwaldfläche unwiederbringlich verloren.“ „Um einen einzigen Baum zu fällen, müssen 5.000 bis 10.000 Quadratmeter Wald dran glauben.“ Schließlich: „In 20 Jahren ist kein Regenwald mehr übrig, wenn nichts passiert.“
Sowenig diese Zahlen sagen — es ist fast unmöglich, ohne Zählen zu erzählen, was in den Wäldern geschieht. Ausgerottet werden die größten, ältesten und mit die schönsten Lebewesen, die die Erde trägt: die Riesenpflanzen Tropenbäume. In ihnen sterben Hunderttausende von Tier- und Pflanzenarten; geschätzte über 95 Prozent aller Arten der Erde leben in Regenwäldern. Euphemistisch taufte die Wissenschaft das menschgemachte Artensterben in der dritten aller Welten jüngst um in „Genetic Erosion“ — als handele es sich dabei um das Abbröckeln einer Hangkante.
Tabus, Amnesien und ein Dreistufenplan
Vielleicht liegt es an der symbolischen Verbindung mit Sex, daß der Raubmord an den Regenwäldern ähnliche Verdrängungen, Verschiebungen und Tabus hervorruft wie sexueller Mißbrauch. Und wie solcher Mißbrauch das Gedächtnis Betroffener schädigt, fügt Waldmord der evolutionären Vielfalt enorme Gedächtnislücken zu. Die zentralen Ursachen des Urwaldsterbens gehen in einem Wirrwarr von Informationen unter.
Abwechselnd aufgescheucht oder themamüde reagiert darauf die Öffentlichkeit der Industrieländer. Sean Connery führt im Kinofilm Medicine Man vor, daß im Regenwald wundertätige Heilpflanzen gedeihen, was „thank god“, die Pharmaindustrie ganz lüstern mache und den Wald bewahren helfe; Herr Konsalik wagt ein Textattentat auf die Geschichte des ermordeten brasilianischen Waldschützers Chico Mendes. Der besorgte Kanzler dieser Republik, die 1,8 Millionen Kubikmeter Tropenholz im Jahr verbraucht, verhieß dem Waldschutz Amazoniens 250 Millionen Mark Hilfe. Verwendet wurden sie, soweit gezahlt, zur „Walderschließung“.
Mit einem 900 Seiten dicken Expertenbericht empfiehlt sich 1990 eine Enquetekommission des Bonner Bundestages „Zum Schutz der Regenwälder“. Wacker unterwirft er das Szenario eines „Dreistufenplanes“: Bis zum Jahr 2000 soll weiter wie bisher Wald zerstört werden dürfen. Ein Jahrzehnt lang wolle man sich daraufhin bemühen, die Waldvernichtung auf erreichtem Level einzufrieren. Fortan werde man wiederaufforsten. Wie hilflos und evasiv dieses Szenario ist, haben auch beteiligte Wissenschaftler erkannt, die dem Bericht kritisch gegenüberstehen. Zahllose Kungeleien — in diesem und in anderen Fällen — zwischen Tropenholzimporteuren und bundesdeutscher Tropenwaldpolitik weist der Hamburger Verein „Rettet den Regenwald“ in einem im Mai veröffentlichten Report minutiös nach. Modern wird im Augenblick das Preisen kleiner, erfolgreicher Projekte tropischer Waldrettung als „Musterkolonien“ und dies in den Medien — etwa 'Bild der Wissenschaft‘ oder 'Geo‘ — zu propagieren. Kauf von Urwaldterrain durch Kindergruppen in Schweden, teure Touristenkletterei in den Kronenregionen der Wälder, gelingende landwirtschaftliche Projekte, ethnopharmakologische Recherchen, die sich wirtschaftlich nutzen lassen und so fort. Vieles davon ist gut. Manches hilft weder, noch nutzt es. Manches, wie der Waldkauf, ist höchstwahrscheinlich sinnlos bis schädlich.
Da bedarf es kaum einer alarmierenden NASA-Pressekonferenz oder eines Aufrufs nobelpreistragender Akademiker, um zu folgern: Was geschieht oder geschah, genügt nicht nur nicht. Es ist vielmehr Ausdruck für ein internationales politisches Delirium in der Frage der Regenwälder.
Politisches Delirium, hilfloses Wirrwarr
Dabei bleibt es ebenso irrelevant, Mißmanagements anzuprangern wie einzelne Schuldige zu stigmatisieren. Klar ist: alle bisherigen Versuche, weitere Waldverluste der Tropen einzudämmen, scheuen radikale wirtschaftliche und politische Konsequenzen, die allein wenige internationale Pressure-groups stellen. Es gibt klare Schritte, die sofort gegangen werden müssen.
Es geht um Boykott.
Radikaler Boykott ausnahmslos aller Produkte, die tropische Primärwälder zerstören: Das ist der notwendigste Schritt, das Leben der noch übrigen Regenwälder zu schützen. Boykottiert werden müssen an erster Stelle alle Tropenhölzer: Rundhölzer (Stämme), Schnitthölzer (Bretter), Spanplatten und Produkte aus Hölzern wie etwa Fensterrahmen, Klodeckel, Regale, Särge, Armaturen und Eßstäbchen. Selbst die Weltbank schreibt dem Tropenholzhandel fünf Millionen Hektar toten Regenwaldes im Jahr zu — ein Viertel der jährlich vernichteten Fläche. Als der nach Japan zweitgrößte Tropenholzimporteur sollte die Europäische Gemeinschaft nicht zögern, Häfen und Bahnhöfe für die fatalen Holzartikel zu schließen.
Entgegen dem Mythos vom segensreichen Einschlag, sind es gerade die Holzwege, die — als mitunter 70 Meter breite Trassen — brandschatzenden Siedlern den Weg auch ins tiefe Innere der Wälder erst eröffnen. Der „selektive Einschlag“, von den Einschlägern als „nachhaltiger“ gerühmt, bedient sich schweren Geräts. Um an die immer entlegeneren Riesenbäume zu gelangen, muß er immer weiter in unberührte Primärwälder vordringen.
Selektiver Einschlag, heißt es, verhindere, daß Wald großflächig zerstört werde. Das Universum der Primärwälder jedoch hat in Millionen Jahren seine abertausend Sinne entwickelt, die wachen und schlafen wie ein großes, atmendes Gehirn. Wo ein Stück aus seinen Gehirnwindungen geschlagen wird, klafft eine fatale Gedächtnislücke. Rings um die verletzte Stelle ändert sich das Mikroklima. Endemische Arten sterben aus. Die Verstörung des Gebietes zieht immer weitere Kreise.
Und: jeder Einschlag bedeutet Straßen. Immer. Straßen bedeutet noch mehr Straßen. Auguste Aubréville, führender Forstexperte des kolonialen frankophonen Afrika, besuchte, nach 20 Jahren zum ersten Mal wieder, die Elfenbeinküste. In einem Bericht bemerkt er schon 1957: „Der Wald der Elfenbeinküste existiert immer noch, aber man muß ihn suchen, und das ist nicht immer einfach. Bald wird man dazu das Flugzeug benötigen. Die Entwaldung geht offensichtlich von den Straßen aus. Der Bau einer Straße in einem wilden Wald ist dessen Ende.“
Radikaler Boykott — der notwendigste Schritt
Die erschütternden Statistiken der Waldverluste in den kommenden Nachkriegsjahrzehnten geben Aubréville recht. So gerne etwa die deutschen Tropenholzimporteure die Hauptschuld am Regenwaldschwund der Überbevölkerung, dem Brennholzverbrauch der dritten Welt und der Brandrodung aufhalsen— auch sie geben in ihren internen Papieren zu, daß es schier unmöglich ist, „Nachhaltigkeit“ nachzuweisen. Zumal bei weiterverarbeiteten Produkten sei der „Nachweis der Nachhaltigkeit unmöglich“, schreibt der Geschäftsführer des Verbandes der Deutschen Holzeinfuhrhäuser (VDH), Schulze- Riewald, 1989 an das Umweltbundesamt. Die Holzfürsten des Nordens zittern ebenso vor einem Embargo wie vor der Forderung, die „Nachhaltigkeit“ ihrer Importgüter beweisen zu müssen.
Während in Tropenländern heute doppelt soviel Holz verbraucht wird wie vor 40 Jahren, konsumieren die Industrienationen seither 25mal soviel gefallenen Wald. Daß vom Einschlag heimgesuchter Wald kaum noch als Primärwald — Urwald — zu bezeichnen ist, wissen die Holzhändler genau und verteidigen dies auf ihre Weise. Keinen Hehl machen sie dabei aus ihrem ökologischen Unverständnis für Artenvielfalt und Klima. „Für das Klima ist es völlig gleichgültig“, schreibt Holzchef Schulze-Riewald im Februar 1988, „ob der Primärwald in Sekundärwald umgewandelt wurde oder eine andere Begründung stattgefunden hat.“
Zwar behaupten zudem Holzimporteure der ersten Welt, ihr wohltätiger Einschlag in der dritten sorge dafür, daß die Bevölkerung, versorgt durch Arbeitsplätze im timberbiz, weniger rabiat und weniger oft ihre eigenen Wälder plündere. Unterschlagen wird dabei, daß überall dort, wo Holztrassen gefräst werden, die wilde Besiedlung schneller, tiefer, schonungsloser in den Wald eindringt. Was Holzhändler primär fürchten, ist diese Einsicht. Die größte Provokation am Boykott ist eine ökonomische: Regenwald durch Boykott zu retten kostet nichts. Im Gegenteil.
Tausendundein Märkte wider einen Holzmarkt
Boykott erhält und vermehrt Chancen; er verspricht Zukunft. Auch wirtschaftliche. Dabei mag es jedoch nicht in erster Linie um die Zukunft der Importnationen gehen, deren Ökonomie gut ohne Tropenholz auskommen kann. Hier geht es um die Zukunft der über 60 Tropenwaldnationen, wo dezentral geerntete Produkte aus Wäldern — nicht Holz! — auf ungezählten lokalen Märkten eine eminent wichtige Rolle für die Wirtschaft haben. Auf der ersten Weltbank-Konferenz zum Schutz der Regenwälder im November 1990 in der Hauptstadt der Elfenbeinküste, Abidjan, referiert eine afrikanische Regierungsvertreterin, wie Frauen im zentralafrikanischen Kongo ihre Kenntnis der Waldprodukte nutzen, ohne dabei dem Wald den Garaus zu machen. Früchte, Nüsse, Rinden, Wurzeln, Harze, Fette, Moose, Äste, Pflanzensäfte, Federn, Vogeleier, Tierhäute und vieles mehr für den Export kaum Taugliche gehören zum täglichen Gebrauch.
„Pygmäen aus dem Wald zu jagen, ehe man Holz einschlägt, nennen manche Holzhändler in Zentralafrika ,desinfizieren‘!“, erklärt Jean-Claude Renaud, vom World Wide Fund for Nature (WWF) auf derselben Konferenz. Raunen im Plenum. Unruhe beim schwarzen und weißen Establishment. Dann Schweigen. Schweigen über Wälder.
Im Vergleich zu den — im Jargon der Regenwaldexperten — „Non- Timber-Products“ (NTPs) hat der Ertrag von Tropenholz pro Hektar Wald einen nahezu lächerlichen Wert. Für die peruanische Dschungelstadt Iquitos stellten drei renommierte amerikanische Wissenschaftler dazu 1990 eine exemplarische Rechnung auf. Früchte, Latex, Harze, Wild, medizinische Pflanzen und andere Produkte, die von zwei Hektar Wald stammten, erreichen einen wirtschaftlichen Wert von 6.330 Dollar. Würde man dieselben zwei Hektar umhauen und das Holz verwerten, brächte das ganze 1.000 Dollar.
Wie frei ist freier Welthandel?
Darum ist es aberwitzig, wenn sich Politiker und Umweltschützer von „Experten“ der Nordhemisphäre — wie unlängst Greenpeace vom Kieler Weltwirtschaftsinstitut— vorrechnen lassen, der Boykott von Tropenhölzern schädige die Wirtschaft von Tropennationen. Gewiß: die Geldbeutel der einheimischen Eliten in den Städten bekämen, wie die Kassen der Holzimporteure, den Boykott zu spüren. Wer aber will errechnen, wie enorm etwa im 2.345.409 Quadratkilometer großen, über und über bewaldeten Tropenland Zaire, der drittgrößten Regenwaldregion der Erde, die nichterfaßbaren und nichterfaßten lokalen Märkte die Wirtschaft bestimmen, von denen weltweit 50 Millionen Menschen abhängen?
In Zaire hängen knapp fünf Prozent des Bruttosozialprodukts vom Holzgeschäft ab. Mobutus Land plant, seine (legale) Einschlagsmenge von heute einer halben Million Kubikmeter im Jahr in den kommenden Jahren auf sechs Millionen Kubikmeter zu steigern.
Warum weiter die Ware Tropenholz handeln? Wir verehren den freien Markt, doch sobald der Verzicht auf Produkte droht, die Tropenwälder zerstören, klammern gerade die Lobbyisten des Holzhandels an kolonialer Patronage und bemühen scheinheilig ihre Verantwortung für die Märkte ärmerer Länder, als hätten sie dort ein Plansoll zu erfüllen.
Der Markt jedoch ist freier und die Verantwortung größer, als diese Debatte will. Der freie Markt ist flexibel. So reagiert er etwa auf jedes Langsamer- und Schnellerfließen von Modeströmungen in Industrienationen. Zum Beispiel Seide: seit einigen Jahren finden wir bei Kaufhof und Hertie sogar auf den Grabbeltischen Blusen und Hosen aus Waschseide, Rohseide, Crêpe de Chine oder Bouretteseide. Seide wird schick und billig. Seidenmärkte in Fernost florieren. Plötzlich schlägt der Modewind um. Seide ist out. Ebbe in fernöstlichen Kassen, Umdenken und Flexibelsein tun not. Niemand in den Industrienationen spricht da von „Verantwortung“ für diese Märkte.
Oder das laue Argument des „Öko-Imperialismus“. Ein Begriff, der vermutlich den öligen thinktanks korrupter Eliten in Nord und Süd entstammt. In ihm finden sich in rarer Einmütigkeit Linke wie Rechte zusammen. „Imperialismus“ — damit lassen sich die „Regenwaldbewegten“ wie gewünscht einschüchtern. So erwägen sie hierzulande in anrührender Selbstüberschätzung auf ihren Bundestreffen, wie „wir“ Milliardenkredite der Weltbank für verheerende Staudammbauten in Amazonien stoppen könnten. Zugleich raunt man sich zu: „Jahrhundertelang haben wir denen gesagt, was sie tun sollen. Jetzt wollen wir ihnen nicht noch sagen, was sie lassen sollen!“ Die Frechheit dieses Arguments ist latent und womöglich unbewußt. Sie liegt in der perfiden postkolonialen Handhabung von „wir“ und „die“; in der Unterstellung, es handele sich um heute freie Länder— als befänden sie sich nicht durch Kredite und Schulden ohnehin in tiefer Abhängigkeit.
„Öko-Imperialismus“ — ein laues Argument
Mit jeder Packung Kaffee, die wir im „Penny“-Markt kaufen, „bevormunden“ wir jemanden, greifen in die Wirtschaft eines Landes ein. Ist der Kaufentscheid für eine Ware frei, warum sollte der Nichtkauf einer Ware anrüchig sein? Ja: ein Boykott greift vorübergehend ein in die Struktur des Welthandels. Aber Wald bleibt am Leben.
Politisch und wirtschaftlich vereinbarter Boykott einer allseits gewissenlos gehandelten Ware ist möglich. Für Waffen, für FCKW, für Tropenhölzer. Die ersten „Aktionsschiffe“ der Geschichte kreuzten, anderthalb Jahrhunderte vor Greenpeace, im Golf von Guinea vor Westafrikas Küste. Englische und französische Kriegsschiffe überwachten damals das Handelsembargo der geächteten Ware Sklaven. Der Sklavenhandel war verboten worden. Im 19.Jahrhundert also haben europäische Handelspartner ihren eigenen Sklavenhandel torpediert und boykottiert. Seinerzeit erregte das bei so manchen europäischen — und afrikanischen — Sklavenhändlern durchaus Mißfallen.
Heute werden als Entschädigungen für die vorauszusehenden Konjunkturschwankungen bei einem Öko-Boykott Reparationen wie Entschuldungen, „Debt-for-Nature- Swaps“ und „Debt-for-Equity- Swaps“ vorgeschlagen. Sie mögen sinnvoll sein. Nur sollte Klarheit darüber herrschen, daß die ärgste Schädigung niemals der Boykott ist. Langfristig gesehen, ist Boykott eine Ent-Schädigung.
Die Wälder von der geographischen Weltkarte auszulöschen, dunkelgrüne Flächen in gelbe Savannenflecken zu verwandeln, greift ins Leben der heute Lebenden ein, in das derer Kinder und Kindeskindeskinder. Es zerhackt langentwickeltes Wissen über heilende Pflanzen, zerschneidet die Zunge derer, die weitererzählte Geschichten erzählen wollen, zerreißt die Trommelfelle in den Ohren von Menschen, die keine Kettensägen kannten, und die Felle der Trommeln, auf denen Musik gemacht wird. Und das Leben der Wälder ist keineswegs nur poetisch. Ebenso urban und prosaisch. Auch das Klima der Städte wird vom Existieren der Wälder mitbestimmt. Wie Wind und Wetter auf dem Land. Eine Milliarde Bauern sind angewiesen auf den Wald als Wasserspeicher, der Regenzeiten und Trockenzeiten ausgleicht.
Den Boykott zerstörerischer Produkte kann kein Argument verhindern. Jede Frau und jeder Mann kann ihn sozial, klimatisch, biologisch, politisch, ökologisch begründen. Um ihn schlicht und radikal zu verteidigen.
Aus Liebe.
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