: Wo die Orte der Verantwortung liegen
■ betr.: "Kassandra wählt man nicht", Christian Semler im Gespräch mit Thomas Meyer, taz vom 26.5.92
betr.: „Kassandra wählt man nicht“, Christian Semler im Gespräch mit Thomas Meyer, taz vom 26.5.92
Es geht, die Wahlen in Baden-Württemberg und Berlin haben's überdeutlich gezeigt, nicht nur um die innere Reform der SPD. Es geht um die parlamentarische Demokratie und ihre derzeitige Tauglichkeit, den wissenschaftlich-technisch-wirtschaftlichen Expansionsdrang, der immer offenkundiger zum selbstlaufenden System entartet, zu regulieren und in den Dienst der Bevölkerung zu stellen.
Der Zustand des Planeten spiegelt wider, in welch reduzierten Vorstellungen die Medienkonsumenten im Hinblick auf ihre Lebensgestaltung verhaftet sind, welchen Vorläufern sie nachlaufen.
Thomas Meyer nimmt sich nicht aus — und das führt zum aufmerksamen Weiterlesen der Interview-Niederschrift — letztlich auf das Mißverhältnis von äußeren und inneren Werten hinzuweisen, das auf jeder Sprosse der Wohlstandsleiter in Frage steht. Ob Intellektueller oder Müllwerker (mit und ohne Garten): auch die Urabstimmung bei der ÖTV beispielsweise hat deutlich gemacht, wo die Orte der Verantwortung liegen. In einer arbeitsteiligen Gesellschaft liegen sie überall! und bei jedem!
So provozierend es klingen mag, aber die eigentlichen Abstimmungen nimmt das Volk täglich vor, am Ladentisch. Was Lothar Späth verhindern wollte, das Rette-sich-wer- kann, steht für Mann/Frau auf der Straße, auf der sich alle Probleme der Welt, vom Ozonloch über den Müllberg bis zum Wasserloch, immer deutlicher zeigen, nicht zur Diskussion, auch wenn sie sich an der Flüchtlingsfrage aufhängt. Zur Diskussion steht in Wirklichkeit die menschliche Würde, jenseits von arm und reich.
Alarmierend ist meines Erachtens, daß der Wert „Gerechtigkeit“ von einer wachsenden Zahl von Menschen bis zur Selbstverachtung und -zerstörung ad absurdum geführt wird: Wenn mir als Subjekt schon keine Achtung entgegengebracht wird, dann soll das ganze Zahlen(mach-)werk leiden.
Wendezeit heißt nicht nur Bürgerdialog der Parteien — die Akzeptanzfrage geistert ja schon seit über 15 Jahren durch die ganze Republik — sie heißt, während sich das Loch in der Mauer zwischen Subjekt und Objekt immer schneller vergrößert: Chance zur Wahrnehmung von LEBENSwegen auf dem Planeten Erde, auf der Basis von Vertrauen in die gemeinsame Überwindung archaischer Schwächen und Verhaltensweisen. Gisela Canal, Ulm
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