ESSAY
: Quantenmechanik der Utopie

■ Oder: Wir wollen immer noch Wein und Weib und Mann und Rock'n'Roll

Flennend, heulend, zähneklappernd vor Kälte stehen wir am Ende des 20. Jahrhunderts vor dem Scheiterhaufen der Geschichte. Lichterloh verbrannt sind die großen utopischen Entwürfe, verzweifelt stochern wir in den Ascheresten. Wir wissen schon jetzt, daß die Apologetiker der schlechten Gegenwart uns verkohlen werden, indem sie uns jene bitterschmeckenden Überreste als Hausmannskost der Realpolitik vorsetzen. Doch das Machbare ist stets immer nur das Machtbare, in dem das Wünschenswerte, Hoffenswerte, eben das Utopische, nicht mal mehr als Salz in der Suppe herauszuschmecken ist.

Wir wollen diese fade Suppe nicht, wir mögen sie nicht mehr auslöffeln. Freßt sie allein, eure Grießklößchen und Kohlrouladen. Wir wollen immer noch das ganze Menü, mit Wein und Weib und Mann und Rock'n'Roll: We want it, and we want it now.

Wir wollen auch nicht mehr billig vertröstet werden von jenen Aschegestalten und gigantischen Vogelscheuchen, die an allen Kreuzungen auf dem mutmaßlichen Weg in eine bessere Gesellschaft in die fernste Ferne gezeigt und den Mühseligen und Beladenen den steinigen Pfad gepredigt haben.

Wenn die Vergangenheit endlich Lehrmeisterin der Menschen spielen würde, dann würde sie uns längst geraten haben: Ihr Deppen, ihr hirnlosen Idioten, es gibt keine Zukunft ohne Gegenwart. Sie würde auch in Rio auftreten und deutlich erklären: Es ist genug für alle da. Es wäre genug für alle da, wenn ihr endlich gerecht verteilen und eure Produktionsweise umstellen würdet. Damit endlich auch die Ärmsten die Chance haben, die Utopie eines Lebens ohne Hunger und Elend nicht auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben zu müssen, und die Reichen die Träume von einer besseren Welt nicht weiter mit ihrem überflüssigen geistigen und materiellen Müll zuscheißen.

Die Utopie ist wie das Licht, würde die Lehrmeisterin vielleicht sagen. Das Licht ist Teilchen und Welle zugleich, Materie und Bewegung, mit unvereinbaren und doch harmonisch zusammen schwingenden Eigenschaften. So müssen auch alle gesellschaftlichen Utopien sein, wenn sie nicht wieder mißbraucht werden wollen als Schleier um neuen totalitären Wahnsinn: Gegenwart und Zukunft zugleich. Das geht zusammen, auch wenn es nicht zusammengeht. Für die Zwangscharaktere ausgedrückt: Wer den Moment nicht ehrt, ist der Zukunft nicht wert. Für die Hedonisten: Nur in den Augenblicken können wir die Sinnlosigkeit als Sinn des Lebens feiern. Was sich nicht schon in den Sekunden der Gegenwart zeigt, das taugt wieder nur für den Müllhaufen der Geschichte.

In Plaste und Elaste geschweißt, verrottet dort schon der sogenannte Sozialismus. Gott oder der Weltgeist oder wer auch immer hab ihn selig, schließlich, wenn auch indirekt, war es auch seine Kopfgeburt. Ausgerechnet Hegel, der große Entdecker der Dialektik, grub die Grube, in die ausgerechnet Marx, der große Meister der Dialektik, mit Schwung hineinfiel: Er glaubte, daß am Ende der Geschichte die glückselige Aufhebung und Synthese aller Widersprüche stünde. Der Homo hegelianicus als Instrument des wallenden Weltgeistes und der Staat als der erscheinende Gott, er wurde zum Homo marxisticus als Instrument der wallenden Materie und der kommunistischen Erlösung als der erscheinende Gott. Als ob die beiden wie trotzige Schuljungen die von ihnen selbst gefundenen Gesetze der Dialektik nicht zu Ende hätten denken wollen, daß eben kein Ende ist. Und daß dann, in der ziellos ewig weiterströmenden Geschichte, kein Mittel den Endzweck rechtfertigen kann. Noch lange nicht ist Hegel vom Kopf auf die Quanten gestellt und, noch vor Nietzsche, als einer der unfreiwilligen Grundlagenlieferanten für die Totalitarismen entlarvt. Denn jede Ideologie, ob religiös oder weltlich begründet, die gegenwärtiges Leiden mit dem Verweis auf zukünftige Glückszustände rechtfertigt, ist ein ekelerregender Totalitarismus, der es wert wäre, vom UN-Sicherheitsrat verurteilt und von den UNO-Friedenstruppen bekämpft zu werden.

Aber man bejuble nicht allzu eilfertig die Demokratie, die heißgeliebten vielzitierten, den angeblichen Contrepart des Totalitarismus. Im quantenmechanischen Licht utopischer weltumspannender Ziele besehen, sind Demokratie und Menschenrechte das Anrecht einer winzigen feudalen Minderheit. Wir Fürsten pflügen den globalen Acker mit menschlichen Gebeinen. Seine Ernte fahren wir fast alleine ein, übrig bleiben Stumpf und Stiel in trostloser Einöde. Wer aber es wagen sollte, in diesen ehemals so fruchtbaren Breiten in Peru oder Osttimor oder Zaire ein Recht auf ein Leben ohne Folter und auf ein Stückchen Land einzuklagen, wird standrechtlich erschossen. Wer die Menschenrechte — und: die Frauenrechte, was keineswegs deckungsgleich ist — jedoch doch einmal durchsetzen sollte, wird zu den größten Revolutionären auf Erden gehören. Kein Stein des Weltgefüges wird auf dem anderen bleiben, wenn der zwei Drittel der Welt heimsuchende Terror, auf dem die liebreizende Demokratie im westlichen Drittel der Welt wie ein Schnörkelchen fußt, einmal beseitigt ist. Der Terror ist die Basis der europäischen Zivilisation, sowohl historisch als auch aktuell, und manchmal, wie im Nationalsozialismus, bricht er durch alle Fundamente.

Kein Wunder, haben sich doch die Demokraten aller Länder nie die Mühe gegeben, den Terror und die Gewalt wirklich auszurotten. Der Krieg ist der Vernichter aller Dinge, aber er ist der Vater der Demokratie. Die Männer der griechischen Antike schlossen sich zusammen, um ihre Stadtstaaten zu verteidigen. Sie schauten sich um in ihren soldatisch uniformierten Reihen, aus denen sie das andere, weibliche Geschlecht als Ungleiches ausgeschlossen hatten, und siehe da: Sie erkannten sich gegenseitig als Gleiche, geboren mit denselben menschlichen Rechten, leben, mitbestimmen und töten zu dürfen. So war es zuerst in Theben, so ist es bis heute geblieben. Diese Eierschalen des Krieges, die die menschliche Gesellschaft moralisch unter das Niveau der sich gegenseitig niemals abschlachtenden Affenhorden stellt, hat die Demokratie nie abgeworfen. Kein Mensch jedoch regt sich über den ungeheuerlichsten Skandal der Weltgeschichte auf: daß für ein Geschlecht die Basis aller menschlichen Moral und aller Zivilisation, nämlich das Tötungsverbot, einfach nicht gilt, während das andere bis in den Unterleib hinein staatlich überwacht und verfolgt wird, ob es zukünftiges Leben ja auch austrägt. Das vom Oberbefehlshaber über den Atombombenpilot oder den Polizisten bis zum schlagenden und vergewaltigenden Familienvater reichende männliche Gewaltmonopol ist das zweite Terrorfundament, auf dem die Welt von heute basiert. Töten dürfen nur Männer, auch in der Demokratie. Im Krieg ist es ihnen direkt erlaubt, im Frieden indirekt, mittels Waffenproduktion und -export. Ist das die von der Gegenwart in die Zukunft reichende Quantenmechanik der Demokratie: der Massenmord? Ute Scheub