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Die russische Mafia, die es gar nicht gibt

■ Schütze des Fasanenstraßen-Attentats schweigt vor Gericht/ In Moabit brach im Mai eine Anklage gegen Tschetschenen wegen Schutzgelderpressung in sich zusammen/ Verbindung von Attentat und Geldforderungen ist nicht nachweisbar

Berlin. Der 22. Juli 1991 war ein flirrend heißer Tag gewesen. Im Vorgarten des italienischen Restaurants, »Da Gianni« in der Charlottenburger Fasanenstraße gab es kurz vor Sonnenuntergang keinen freien Tisch mehr. Die Gäste lachten und tranken Prosecco aus hohen Gläsern. Um 21.20 Uhr war die Idylle zu Ende. Aus der Menge der in der Fasanenstraße flanierenden Passanten löste sich ein unauffällig aussehender junger Mann. Mit einer Maschinenpistole schoß er aus anderthalb Metern Entfernung auf eine Gruppe von vier Personen, die gerade ihre Suppe löffelten. Getroffen und zum Teil schwer verletzt wurden drei Männer aus der GUS und ein ebenfalls männlicher Gast an einem Nachbartisch. Der vierte Mann aus der Gruppe, auf die gezielt worden war, blieb unverletzt und reagierte unerwartet. Er schoß zurück und traf den Attentäter am Oberschenkel und in die Hoden. Blutend flüchtete der Mann in die Fasanenstraße und entkam. Im Tohuwabohu von Schreien, umstürzenden Tischen und splitterndem Geschirr verschwanden auch die Getroffenen, einschließlich des reaktionsschnellen Rächers. Das ganze Spektakel hatte nur wenige Sekunden gedauert.

Mitte Mai begann vor der 28. Strafkammer des Landgerichtes der Prozeß, Ende Juni soll das Urteil gesprochen werden. Vor Gericht sitzt der Mann, der in die Gruppe hinein geschossen haben soll. Er heißt Jegor B., ist 24 Jahre alt und in Minsk geboren. Die Polizei hatte ihn einen Tag nach der Ballerei in einer Klinik festgenommen. Die Anklage lautet auf versuchten Mord und illegalen Waffenbesitz. Zur Sache schweigt Igor B. eisern, lediglich zu seiner Person gibt er an: ledig, ohne Beruf, seit Dezember 1989 in Berlin, Asylantrag im Januar 1990, seit Juli 1991 ohne festen Wohnsitz. Die Verhandlung verfolgt der junge Mann, hinter einer Glasscheibe sitzend, mit starrem Blick. In den Pausen liest er konzentriert in einem Buch. Englische Erzählungen der Jahrhundertwende. Dieser Mann wird nicht erzählen, wer sein Auftraggeber war und warum er geschossen hat!

Auf der Suche nach dem Bandenkrieg der Russen

Ob es dem Gericht gelingen wird, ohne aussagewillige Zeugen die Hintergründe der Schießerei aufzuklären, ist zweifelhaft. Monatelang hatte eine auf Verbrechen von GUS- Tätern in Berlin spezialisierte Arbeitsgruppe beim Landeskriminalamt versucht herauszufinden, ob in der Stadt ein russischer Bandenkrieg läuft oder nicht. In Moskau erfuhr sie, daß der Mann, der in der Fasanenstraße so schnell reagierte, kein Unbekannter ist. Der Georgier Tengis M. sei Chef einer Verbrecherorganisation mit internationalem Betätigungsfeld gewesen. Kriminaloberrat Hartmut Koschny, zuständiger Inspektionsleiter beim Referat Organisierte Kriminalität I/4, hält es für möglich, daß sich dieser Syndikatschef an dem verhängnisvollen Juliabend mit einem russischen Konkurrenten treffen wollte, der einen Tag zuvor über Düsseldorf nach Berlin eingeflogen war. Aber zu dem Date erschien dieser Kontrahent nicht. Und Tengis M. wird kein Gericht der Welt mehr vernehmen können. Am 20. April fand ihn die holländische Polizei in einem Vorort von Amsterdam. Er lag tot in einem Straßengraben. Genickschuß. Aber auch von den noch lebenden Russen, die mit am Tisch saßen, wird das Gericht nichts hören. Einer scheint den Ermittlungen nach zufällig am Tisch gesessen zu haben, ein anderer folgte bisher nicht den Vorladungen vor Gericht, und der dritte — der Polizei aktenkundig bekannt — ist flüchtig.

Die Amsterdamer Polizei habe gar nicht gewußt, welch »dicken Fisch sie da gefunden haben«, sagt Hartmut Koschny. Seit dem Leichenfund gibt es eine Interpol-Ermittlungsachse Moskau-Berlin-Amsterdam. »Trotzdem wissen wir bis heute nicht, warum und weshalb geschossen wurde«, sagt er. War Igor B. bestellter Handlanger des namentlich bekannten, aber flüchtigen Konkurrenten? Sollte er Tengis M. erschießen und die anderen versehentlich getroffen haben? Oder sollte es eine Warnung an die gesamte Gruppe sein, die da bei »Da Gianni« saß und speiste? Und warum saßen die Männer überhaupt zusammen? Ging es um Marktanteile im Erpressungsgeschäft, Hehlerei mit Antiquitäten, Ikonenschmuggel, Rauschgift? Oder war es ein Streit mit der russisch-tschetschenischen Mafia um nicht abgerechnete Schutzgelder?

Vor Gericht vergessen die Zeugen alles

Dafür gibt es einen einzigen Hinweis. Allerdings einen, der seit kurzem nicht mehr gerichtsverwertbar ist. Die Ermittlergruppe um Koschny glaubte bei ihren Recherchen herausgefunden zu haben, daß es zwischen der Schießerei in der Fasanenstraße und den Aktivitäten einer gleichzeitig in Berlin arbeitenden mutmaßlich tschetschenischen Erpresserbande namens »Moscow- Tschetschen Community« (M.T.C.) eine personelle Querverbindung gibt. Denn aktenkundig ist, daß in dem BMW, in dem Igor B. zur Fasanenstraße und anschließend ins Krankenhaus gefahren wurde, zwei — ebenfalls bis heute verschwundene — Tschetschenen saßen. Das sind Angehörige eines nordkaukasischen Volksstammes, von denen sich laut Moskauer Polizei überproportional viele im kriminellen Milieu breitgemacht haben. Der Fahrzeugbesitzer, ein ehmaliger russischer Schuhmacher sagte aus, daß ihn diese Männer mit einem Gegenstand am Kopf (»wie eine Pistole«) gezwungen haben, die Fasanenstraße anzufahren und dort zu warten. Als er das vor Gericht zu Protokoll gab, zitterte er vor Angst.

Einer dieser beiden — wie vom Erdboden verschwundenen tschetschenischen Begleiter von Igor B. ist der Polizei gut bekannt. Sein Name spielte eine Rolle in einem Prozeß, der am 22. Mai 1992 gegen zwei tschetschenische mutmaßliche M.T.C.-Mitglieder vor dem Kriminalgericht geführt wurde. Die beiden Angeklagten, Magomed M. und Ousman A., sollen zwischen Juni 1990 und Juni 1991 russisch-jüdische Geschäftsleute erpreßt und bei Nichtzahlung mit der Ermordung der Zahlungssäumigen oder auch von Familienmitgliedern gedroht haben. Bei einer Erpressung direkt beteiligt soll genau der Mann gewesen sein, den der russische Schuhmacher zusammen mit Igor B. in die Fasanenstraße fuhr. Diese Querverbindung war der einzige Hinweis für die Ermittlungsbeamten, daß es bei der Schießerei eventuell um die Aufteilung von Schutzgeldern gegangen sein könnte. Und er reichte, um bei der Kriminalpolizei alle Alarmglocken bimmeln zu lassen.

Allerdings, und deswegen taugt diese Vermutung nur noch für das Kaffeesatzlesen, brach die Anklage gegen die zwei mutmaßlichen Erpresser schon am ersten Verhandlungstage in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Die Angeklagten verließen nach einer spektakulären siebenstündigen Verhandlung als freie Männer das Moabiter Landgericht. Für die zehn Monate Untersuchungshaft können sie sogar Haftentschädigung beantragen.

Seit diesem 22. Mai ist es gerichtsnotorisch, daß es in Berlin keine russisch-tschetschenische Mafia gab (oder gibt), die hier Geschäftsleute mal um 100.000, mal um 75.000 Mark erpreßte. Zumindest ist es nicht zu beweisen. Es ist noch viel weniger beweisbar, daß die beiden Angeklagten Mitglieder der M.T.C. sind oder waren und überhaupt nicht, daß der Mann, der sich am 22. Juli 1991 in der Nähe des italienischen Restaurants aufhielt, Mitglied dieser kriminellen Organisation gewesen sei. Die Erpressungsopfer und Zeugen, die den polizeilichen Ermittlern über Monate hinweg Namen, Details, Treffpunkte genannt hatten, zogen vor Gericht all ihre Aussagen zurück. Sie seien zwar erpreßt worden, aber auf keinen Fall von den Angeklagten. Alles sei ein Mißverständnis, furchtbar lange her, vielleicht ein Übersetzungsfehler und überhaupt; mit den beiden angeblichen tschetschenischen Mafiosi sei man nahezu befreundet. Als Richter Förig entnervt einen Zeugen daran erinnerte, daß er noch im vergangenen Herbst den Ermittlungsbeamten erzählt habe, daß er im Juni 1991 mit einer entsicherten Pistole an der Stirn zu Zahlungen gezwungen werden sollte, konnte sich der Zeuge daran nicht mehr erinnern. »Der eine vergißt schnell, der andere langsam, die Menschen sind eben verschieden«, sagte er und knetete die Hände so gewaltsam, daß die Knöchel fast aus der Haut platzten.

War sein Gedächtnis deshalb so miserabel, weil einer an dieser angeblichen Erpressungsgeschichte beteiligten Männer genau jener flüchtige Tschetschene war, der einen Monat später mit Igor B. zur Fasanenstraße fuhr? Mit der Einstellung des Verfahrens gegen die vermeintlichen M.T.C.-Gangster jedenfalls sind auch die Hintergründe des Fasanenstraßenprozesses schwerer denn je zu erhellen. Kommissariatsleiter Wolfgang Saddig, der die Erpressungsopfer mehrmals persönlich vernommen hatte und das Moabiter Desaster miterlebte, ist nach wie vor überzeugt, »daß an der Geschichte was dran war« und daß es zwischen diesen beiden Vorfällen eine Verbindung gibt. Aber, so sagt er, wenn die Zeugen genug Zeit haben, »nachzudenken«, dann sei mit solchen Ergebnissen zu rechnen. Und Kriminaloberrat Koschny weiß: »Die Veränderung des Zeugenverhaltens ist geradezu ein Indikator für die Existenz des organisierten Verbrechens.« Im Klartext: Weil die Zeugen, wenn es vor Gericht ernst wird, von der Alzheimerischen Krankheit befallen werden, erleidet der Rechtsstaat eine Schlappe. In den USA starb vor zwei Wochen der Leibwächter von Al Capone an Altersschwäche. Der Mann verbrachte, obwohl Dutzende von Morde auf sein Konto gehen, in seinem ganzen Leben nicht einen einzigen Tag im Gefängnis. Anita Kugler

Der Prozeß gegen Igor B. wird heute fortgesetzt.

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