: Deutsch als Fremdsprache
Fassbinders Filme zehn Jahre danach ■ Von Mariam Niroumand
Könnte man die Topographie der Berliner Fassbinder- Werkschau aus der Vogelperspektive betrachten, würde ihre Anlage als nationales Ereignis augenfällig. Von Berlin Mitte mit Zentrum am Alex bis nach Potsdam ist die Stadt mit dem grübelnd-bartstoppeligen Konterfei des Regisseurs geschmückt. Auf den Straßen tummelt sich schillernd internationale Prominenz, zum Teil von Fassbinder selbst in den Star-Himmel katapultiert. Bei all dem wird klar, was nach Fassbinders Tod vor zehn Jahren noch nicht so deutlich war: Was D.W. Griffith für Amerika, Rossellini für Italien, Eisenstein für die Sowjetunion oder Nagisa Oshima für Japan, das kreierte Fassbinder für Deutschland — er hat, sein Leben lang, am deutschen „Birth of a Nation“ gedreht. Deshalb hat ihn Cahiers-Autor Yann Lardeau den „Balzac des Kinos“ genannt2. Deshalb auch greift all der Schmarrn vom Künstler, dessen „Kerze an beiden Enden brennt“, (wann stirbt dieser Satz endlich einmal aus?), dem ewig strapazierten Zitat: „Das einzige, was ich akzeptiere, ist Verzweiflung“, oder dem „Kopfbefreier“ Fassbinder zu kurz — degradiert zur Privatsache, was eigentlich ein Nationalepos war. Vom nördlichen Deutschland des 19.Jahrhunderts in Effi Briest undBremer Freiheit, über die Zeit zwischen den beiden Kriegen in Pioniere in Ingolstadt oder Bolwieser; zum Näherrücken des Faschismus, Krieg und Zerfall des Reiches in Berlin Alexanderplatz, Despair und Lili Marleen bis zum Wiederaufbau und Wirtschaftswunder in Die Sehnsucht der Veronika Voss, Die Ehe der Maria Braun, Der Händler der vier Jahreszeiten ergibt sich eine Art Tryptichon mit dem Faschismus als Gravitätszentrum. Im Gegensatz zu Syberberg hat Fassbinder dieses Zentrum einem Bilderverbot unterworfen — als Willie aus Lili Marleen ins Führer-Hauptquartier bestellt wird, sieht man nur, wie sich die mächtige Tür zu den Donnerhallen öffnet, nie das Gesicht Hitlers. Das gleißende Licht, in das die Schygulla dann eintaucht, ist bei Fassbinder eine Metapher für das, was in Deutschland aus der Aufklärung geworden ist: Rationalität dient nur der Perfektion kontrollierender Gewaltausübung, nicht der Befreiung. Die Demokratie, in der Lola ihren Aufstieg macht, ist keine erkämpfte, sondern eine geschenkte.
Über die Generation, für die seine Filme wohl am wichtigsten waren, die der Nachgeborenen, drehte er Die Niklashauser Fahrt, Rio das Mortes, Die dritte Generation und vor allem seinen mörderischen Beitrag zu Deutschland im Herbst. Alle sind in Fassbinders Comédie humaine zu sehen: Die deutsche Bourgoisie (Chinesisches Roulette), die sogenannten Kleinbürger (Händler der vier Jahreszeiten) die Arbeiter (Acht Stunden sind kein Tag, Mutter Küsters Fahrt zum Himmel), das Lumpenproletariat (Götter der Pest), die Künstler und Intellektuellen (Lili Marleen, Satansbraten, Warnung vor einer Heiligen Nutte).
Dabei ist er weit über das Diktum, daß das Private politisch sei, hinausgegangen. Auch eine Psychologisierung liegt ihm fern. Ähnlich wie Pasolini sieht er den Kampf gegen das andere, die geometrischen Formationen der Gesellschaft um ihre offenen Wunden herum, als die entscheidende Triebkraft der Geschichte des Volkes und des einzelnen. Dieser Kampf spielt sich auch und gerade mit dem eigenen Körper ab („obszön finde ich nicht, wie ich vor der Kamera mit meinem Schwanz spiele, obszön finde ich das Onanieren von Leuten, die am liebsten die Existenz ihres Schwanzes vor sich selbst geheimhalten würden“).
Fassbinders Filme führen immer neue Konstellationen der Unterwerfung vor: Der Zuhälter und die Hure, die Alliierten und die Deutschen, der Sadist und der Masochist — oder Reinhard und Franz Biberkopf, Erwin/Elvira und Anton Seitz, Effi Briest und von Instetten reproduzieren sie.
Eine Demokratie mit solchem Innenleben muß labil bleiben, und zwar nicht deshalb, weil die Unterdrückten nicht zu Worte kämen, sondern weil sie — vor allem in der Sprache — die Ordnung, die sie auslöschen will, so lange sie können, mitverfestigen.
Die Sprache, in der eine Figur bei Fassbinder „A Rua muß sein. Weg muß der“ sagt, legt sich als Schlinge um den Hals des Sprechers. Sätze werden hervorgestoßen, vor sich hingesagt, wie geübt; Deutsch ist eine Fremdsprache. Gleichzeitig hat dieser von Marie Luise Fleisser beeinflußte Minimalismus Fassbinder, besonders in den frühen Filmen bis zu Warnung vor einer Heiligen Nutte, die maximale Kontrolle über den Bau seiner Figuren ermöglicht. So wird der Sadomasochismus, den er als Motor der Geschichte begreift, zugleich zum künstlerischen Formprinzip. In der Heiligen Nutte, einem Film über das Filmemachen, erscheinen die Verhältnisse zwischen den Protagonisten wie eine endlose S/M-Kette, in der jeder, auch der Regisseur, an beide Pole angeschlossen ist. (Nirgendwo wird der Unterschied zwischen dem Neuen Deutschen Film und der Nouvelle Vague so deutlich wie beim Vergleich der Heiligen Nutte mit Truffauts La nuit américaine, in dem das Inszenieren nichts mit Despotismus zu tun hat.)
Der Zusammenhang zwischen Opfern und Tätern ist bei Fassbinder auch oft in religiösen Motiven ausgedrückt: Einzelne werden dem Bestand des Ganzen geopfert, ihr (Selbst-)Mord hat eine kathartische Funktion (In einem Jahr mit 13 Monden, Katzelmacher, Händler der vier Jahreszeiten). Die letzte Einstellung ist oft eine Pietà-Konfiguration; Erleichterung, Trauer.
Würgeengel treten auf (Querelle, Reinhard in Berlin Alexanderplatz, die verkrüppelte Tochter in Chinesisches Roulette) — nicht umsonst war Buñuels El angel exterminador einer von Fassbinders Lieblingsfilmen. Ihre Gegenspieler sind auf der Erde Umherirrende — Gastarbeiter, Transsexuelle, Exilanten, Nomaden; alle Rollen können sich allerdings umkehren. Dem Weltbild des traditionellen Christentums wird dabei von Fassbinder („Ich habe nichts gegen simple Bezüge“) eine Affinität zum Faschismus unterstellt: die Teilung der Welt in Gläubige und Helden, in oben und unten, die Forderung nach bedingungsloser Unterwerfung... Das gilt für die schuldbeladene Sinnenfeindlichkeit der Protestanten im deutschen Norden (Effi Briest, Nora Heiner), wie für die grobschlächtige Verlogenheit der Katholiken im Süden (Katzelmacher, Wildwechsel).
In einem hervorragenden Artikel über das Theater der Grausamkeit weist Michael Töteberg diesen Gedanken schon in Fassbinders frühen Theaterstücken nach1. Dabei ist der kathartische Effekt, den die Explosion von Grausamkeit, das Zeigen von Folterungen auf der Bühne haben sollte, der christlichen Läuterung durchaus verwandt, wenn auch unabsichtlich. (Wie sonst wäre der Satz „Filme befreien den Kopf“ zu verstehen?)
Das erste Exempel Fassbinderscher Figuren-Konfigurationen ist die Kleinfamilie — nichts ist unerträglicher als die schweigenden Mahlzeiten an Fassbinders deutschen Eßtischen, bei denen man nur das Schaben der Löffel hört und Irm Hermann stumm über den Tisch blicken sieht. Häufig wird diese Kernfamilie ersetzt durch eine „menage à trois“, wie die zwischen Hermann, Lydia und ihrem idiotischen Malers- Naturburschen in Despair, oder die merkwürdigen Dreiecke zwischen Biberkopf, Reinhard und den todgeweihten Frauen in Berlin Alexanderplatz. Im Gegensatz zu Chabrol oder Buñuel ist Fassbinders „Angriffsziel“ aber nicht eine bestimmte Klasse oder der Katholizismus, sondern eben die Struktur dessen, was in Deutschland Privatheit ist. Er will nicht denunzieren. „Jeder vernünftige Regisseur hat nur ein Thema, macht eigentlich immer denselben Film. Bei mir geht es um die Ausbeutbarkeit von Gefühlen, von wem auch immer sie ausgebeutet werden. Das endet nie. Das ist ein Dauerthema. Ob der Staat die Vaterlandsliebe ausbeutet, oder ob in einer Zweierbeziehung einer den anderen kaputtmacht. Das kannst du in immer neuen Variationen erzählen.“ (Fassbinder, 1980)
Deutsch ist auch Fassbinders Künstlertum. Was in der Ausstellung als Huldigung eines genialen Autodidakten erscheint, der ein Leben zum romantischen Gesamtkunstwerk gemacht hat, ist ein Versuch, die Trennung zwischen Leben und Kunst aufzuheben, wie man das in diesem Jahrhundert so häufig beobachten konnte: In kubistischen Collagen, in Duchamps Pißbecken, in der Pop Art oder in der Gewerkschaftsforderung nach „Anders leben anders arbeiten“. Fassbinder hat diese Aufhebung auf vielen Wegen versucht: Indem er — von den Anfängen im antitheater bis in die letzten Filme hinein — eine Großfamilie von Schauspielern um sich versammelte, die mit ihm älter wurden und eine „education sentimentale“ bei ihm erhielten, oder indem er umgekehrt seine Mutter zur Schauspielerin machte (die historische Bedeutung dieses Aktes wird wohl nirgendwo so deutlich wie bei seinem Interview mit ihr in Deutschland im Herbst).
Ein anderer Weg war die schon im antitheater verwendete Form des Einbaus von Alltagsschnipseln: „Texte von Mao oder Paul McCartney werden ebenso exakt montiert wie szenische Zitate aus Comic strips oder dem Living Theater“, hieß es in einer Kritik. Der Text, also das ursprünglich „Künstlerische“, wird in diesen Inszenierungen zum bloßen „Klangbild“ neben Musik etc. In vielen Filmen läuft das Fernsehen (Interviews mit Rudi Dutschke in dem Terrorismus-Film Die dritte Generation) oder der „Volksempfänger“ (Was für ein Wort für ein Medium!). Döblins Berlin Alexanderplatz erscheint ihm so sehr wie die Versinnbildlichung seines Lebens, daß er Günther Lamprecht die so perfekte Verkörperung des Franz Biberkopf fast neidet. Auch das Verbrechen gerät ihm zur schönen Geste — Querelles Mord ist — ganz wie bei Genet — ein künstlerischer, graziler Akt.
Der Aufbau seiner öffentlichen Persona — das Hauptinteresse übrigens der Ausstellung am Alexanderplatz — hat ebenfalls die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit eingerissen. Autodidakt, Enfant terrible, sich verzehrender Künstler, schwuler Macho, Bricoleur — an dieser Ikonographie hat er nur zum Teil selbst gestrickt. Sie war auch Produkt der Struktur deutscher Filmförderung Anfang der siebziger Jahre, die nach der Dominanz durch Hollywood, und nach dem Oberhausen Manifest Film als Kunstprodukt eines kommerziell interesselosen Künstlers verkaufen wollte. So war, was im Ausland schon bald respektvoll als „Autorenfilm“ bekannt wurde, von vorneherein ideologisches Zwitterwesen. Dieser Zwiespalt resultierte daraus, daß ein Autor sowohl Künstler im romantisch- bürgerlichen Sinn wie auch Produzent sein sollte, mit den staatlichen Kuratorien als Mäzen. Wo die Filmproduktion nicht dem gnadenlosen Gesetz des Studio-Systems oder des „package deals“ überlassen, sondern nach „Erziehungs“-Gesichtspunkten im weitesten Sinne gefördert wurde, wo ein einzelner Künstler an eine staatliche Institution herantritt, ist der Tanz auf dem Drahtseil zwischen Autonomie und Existenzsicherung vorprogrammiert. Speziell unter der sozialliberalen Koalition sollte die Kulturförderung die Brückenfunktion zwischen Kunst und Kommerz liefern, sollte den neuen deutschen Staat als kritikfähig legitimieren, nicht zuletzt im Rückblick auf die Kulturveranstaltungen der Vergangenheit. Der Kult der Selbstverwirklichung, der in dieser Zeit blühte, hielt, solange diese Allianz hielt; fragil war diese immer.
Fassbinder stellte schon bald fest, daß für ihn und die anderen Größen des Neuen Deutschen Films mit der Berühmtheit wieder eine Art Marktlogik wirksam wurde: „Ich kann einen ganzen Film drehen in der Zeit, die ein neuer Regisseur braucht, um das Kleingedruckte auf den Antragsformularen zu lesen.“ Kein Wunder, daß eine ganze Reihe von Filmen des Neuen Deutschen Films sich mit Künstleridentitäten beschäftigen: Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos; Fitzcarraldo oder Fassbinders Satansbraten exponieren ein Künstlertum, das sich höchstens noch selbst legitimiert.
Wenn man will, kann man Fassbinders gesamtes Filmschaffen als eine Auseinandersetzung mit der Legitimation/Identität des Künstlers und der Kunstproduktion in Deutschland sehen: Die Filme sind voller Spiele, Hermann in Despair kreiert und vernichtet sich selbst; auch Fassbinders Transvestiten sind eher Kunstprodukte als reine Märtyrer (wie überhaupt sexuelle Identität bei ihm eher ein Kostümfest als eine biologische Konstante ist). In diesem Zusammenhang muß auch die Figur des Juden aus Der Müll, die Stadt und der Tod gesehen werden: Wie Gilles Deleuze in einem Leserbrief an 'Le Monde‘ schrieb, darf man nicht die Geste mit dem Inhalt, die Kunstfigur mit der historischen verwechseln (bei Deleuze heißt das énonciation und énoncé).
Angesichts der bleiernen Homogenität der deutschen Verhältnisse in Geschichte und Gegenwart, im Innen wie im Außen, in der Kunst wie im Leben, scheint die Möglichkeit der Freiheit nur als Negation hinter den Filmen auf. Die Verdoppelung und Reflektion der immer gleichen Unterwerfungsmaschinerie ist Motor der Fassbinderschen Kunst. Das Spiel der erprobten Genres, durch deren Benutzung er sich ebenso legitimiert wie durch ihre Brechung, ist — wie der Kitsch — letztlich dem Exzeß gewidmet, der einzigen noch offenen Tür ins Freie.
2) Yann Lardeau, „Rainer Werner Fassbinder“, Collection „Auteurs“ der 'Cahiers du cinéma‘, Paris 1990.
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