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VOM NACHTTISCH GERÄUMT ...

BEREDSAMKEIT

In der Wiener Albertina ist zur Zeit eine Ausstellung zur Körpersprache in der Kunst zu sehen: Die Beredsamkeit des Leibes. Zum Begleitmaterial der sicher sehr sehenswerten Ausstellung gehören Filme und ein Katalog. Nur über letzteren kann ich hier sprechen. Mehrere hundert hervorragender Schwarzweißabbildungen auf bestem Papier, mehr als zwanzig Beiträge auf 256 Seiten.

Wer jetzt schon stöhnt, muß nicht mehr weiterlesen. Er kennt die Praxis. Es werden keine Kataloge mehr geschrieben, es gibt nur noch Beiträge. Jeder haspelt an einem oder an fürchterlich vielen zerquälten Wochenenden seine zehn Seiten zusammen, dann ist der Buchbinder dran, und fertig ist die Sache. Die Beiträge sind nicht Beiträge zu etwas, sie sind die Sache selbst geworden. Das Ganze ist nichts anderes als die Summe der Beiträge. In 90 Prozent der Fälle handelt es sich um Publikationsnachweisprosa. Was so schlampig gedacht, geschrieben und redigiert wird, das will natürlich auch nicht gelesen, sondern nur registriert werden. Auf der ersten Seite des einleitenden Aufsatzes der Beredsamkeit des Leibes z.B. heißt es: „Solange der bildende Künstler dem Naturvorbild verpflichtet war, mußte ihm auch dessen meßbare Struktur als verbindlich erscheinen.“ Der Autor meint natürlich nicht „erscheinen“ sondern „sein“. Vor allem aber merkt er nicht den Unterschied zwischen einem Vor-bild und einer meßbaren Struktur, hat also schlicht sein Thema verfehlt. Ein paar Sätze weiter wird dann behauptet, in der ägyptischen Kunst würden „die hervorragenden Merkmale der Gegenstände entsprechend ihrer objektiven Beschaffenheit dargestellt“. Die Naivität solcher Formulierungen rührt einen so sehr an, daß man sich entsetzt an den Kopf greift.

Es wird nicht nur nicht nachgedacht, sondern auch nicht hingeschaut. Da ist der Ecce Homo von J. de Gheyn III. Ein athletischer blonder Jesus zwischen einem negroiden römischen Soldaten und dem jüdischen Oberpriester. Der blinde und ahnungslose Kommentar eines der Herausgeber spricht von „häßlich- grotesken Köpfen neben dem vermenschlichten Körperideal Christi“. Der Laie fragt sich, ob außer Dia- Sammeln noch etwas zum Rüstzeug eines Kunsthistorikers gehört.

Die Beredsamkeit des Leibes , herausgegeben von Ilsebill Barta Fliedl und Christoph Geissmar, Residenz Verlag, 256 Seiten, zahlreiche s/w und acht Farbabbildungen, 69 DM

MANN

Für die ja nicht allzu kleine Thomas- Mann-Gemeinde sind die beiden Bände Notizbücher ein absolutes must. Der von solchen Fixierungen freie Leser wird sie vielleicht nach ein paar Seiten weglegen. Was interessiert ihn die Adresse eines Schneiders, eines Arztes, vom Meister hier und dort aufgeschnappte Redewendungen, die dann eingingen in einen Roman, in eine Erzählung. Wer sich aber durch dergleichen hindurchliest, sich belehren läßt von Hans Wysling, dem Herausgeber, der gewinnt eine Ahnung von der Hamsterarbeit dieses Autors, von der wieseligen Beharrlichkeit, mit der er Stein und Baum, Wörter und vor allem Menschen abschnupperte nach ihrer Verwertbarkeit für seine Geschichten. Das ist beeindruckend, beschämend und traurig zugleich. Nach einhundert Seiten spürt man, wie dem Autor das Leben entging. Während er das eine kleine Erlebnis noch übersetzte, war die Chance, daß etwas daraus hätte entstehen können, schon vorüber.

Im zweiten Band der Notizbücher stößt man mehrfach auf eine ganz spezifische Übersetzung. Thomas Mann plante einen Roman Die Geliebten, in dem er viele seiner Erlebnisse mit Paul Ehrenberg unterbringen wollte. In den Notizbüchern sieht das dann oft so aus, daß er an einem Abend eine Begegnung mit Ehrenberg notierte, und ein paar Seiten weiter kommt dieselbe Episode noch einmal, nur daß es jetzt heißt: „Sie saß und sonnte sich in der Möglichkeit seines Kommens.“ Der Geschlechtswechsel, das Schlüpfen in die weibliche Rolle, macht — so gewinnt man den Eindruck — den eigentlichen Reiz dieser Notizen aus. Das gerade Erlebte wird nicht so sehr in Literatur verwandelt als transvestiert. Wir sind bei der ersten der vielen Metamorphosen auf dem Weg vom Erlebnis zum Text dabei. Das lohnt die Lektüre allemal.

Thomas Mann: Notizbücher I und II , S.Fischer Verlag, 309 und 406 Seiten, 296 DM

ORGANISATIONSFRAGE

Christian Geisslers Winterdeutsch ist das Protokoll einer Niederlage. Monatelang hatte er an einem Text gearbeitet, der als Plattform dienen sollte für die gemeinsame Arbeit deutscher Kommunisten. Dann war er durch die Lande gezogen, hatte seinen Vorschlag zur Diskussion gestellt und stieß vor allem auf Desinteresse und Ablehnung. Sein Ziel, am 21.Januar 1993, am 200. Jahrestag der Enthauptung Ludwig des XVI., ein „neues europäisches Manifest freier Kommunistinnen und Kommunisten“ vorlegen zu können, wird er nicht mehr erreichen. Die Organisationsfrage wird von seinen Freunden oder denen, die er dafür hielt, nicht mehr gestellt. Geisslers Versuch, in eineinhalb Jahren mal schnell das Wesentliche in zündende Worte zu fassen, die sieben mal sieben Aufrechten zu sammeln und die Herrschenden im wiedervereinten Deutschland, im vereinten Europa mit dem Klassenkrieg von unten zu konfrontieren, ist gescheitert.

Wen wundert's? In den letzten 20 Jahren sind ähnliche Unternehmungen dutzendweise daneben gegangen. Die meisten, die sich an ihnen versucht haben, sind inzwischen froh, daß sie scheiterten. Man stelle sich vor, die KPD/ML hätte Mitte der siebziger Jahre, KPD und KBW Mitte der achtziger Jahre die Macht übernommen. Verglichen mit den Austs, Semlers und Schmierers jener Jahre ist Kohl für uns alle ganz sicher das kleinere Übel.

Der Reiz von Geisslers Winterdeutsch ist nicht, wie man annehmen könnte, der der unfreiwilligen Komik. Elemente davon fehlen natürlich nicht. Aber was die kleine Flugschrift zu einem Dokument unserer Jahre macht, das ist die Verzweiflung, die Verlassenheit, die aus ihr spricht. Es gibt keinen deutschen Autor, dessen Prosa Kommandoerklärungen der RAF so nahe steht wie Geissler. Der Schematismus von „denen und uns“ prägt fast jede Zeile, kein Gedanke, der nicht zur Schablone gerinnt und doch... Winterdeutsch ist ein als Organisationsaufruf getarnter Verzweiflungsschrei. Das „die da oben, wir da unten“ ist ein immer dünner werdender Paravent hinter dem ein Einzelner seine Verlassenheit zu verstecken sucht. Bei seiner Suche nach Bundesgenossen merkt Geissler, wie allein er ist. Er trifft niemanden, der seinen Haß auf die Mächtigen hat und zugleich seine „Freude auf alle die tollen Künste des Menschen“. Geissler will beides: das Pathos der wahren Empfindung und die korrekte Linie, den allen Aufrechten nachvollziehbaren Gedanken und die große Geste der befreienden Tat. „Hölderlin und Karl Marx“, hat Thomas Mann das einmal genannt. Geissler wäre lieber Hölderlin und Lenin in einem, und glücklich wäre er erst, wir wären es alle. Ein Wahn. Aber nicht Geisslers private Mythologie, sondern ein Irrwitz, hinter dem in den siebziger Jahren viele herrannten. Daß einer ihn heute noch artikuliert, so daß wir die Möglichkeit haben, ihn und uns darin zu erkennen, daß muß uns freuen. Einer wird den Don Quijote von '68 schreiben. Keiner hatte die Heldengeschichten jener Jahre so verschlungen wie Christian Geissler, wenn er sie jetzt noch verdaut, wird er unser Cervantes werden.

Christan Geissler: Winterdeutsch , Die Aktion Heft 89/92, Edition Nautilus, 60 Seiten, 8 DM

REISEN

Hermann Melvilles Reise von New York über Glasgow, Liverpool nach Konstantinopel und von dort über Griechenland, Italien, Deutschland, Holland und England wieder in die heimatlichen USA. Ein Tagebuch von 1856/57. Kleine Beobachtungen: die Fischer in den griechischen Häfen bunter angezogen als die Opernensembles in London. Heute dagegen: alte Männer in verwetzten grau-braunen Anzügen. Der Fortschritt.

Melville vergleicht gerne und merkwürdig: „Turin ist regelmäßiger angelegt als Philadelphia.“ Oder über Pisas Zentrum: „Die vier Bauwerke stehen auf dem Stadtanger — Gras. Wachsen aus dem Erdreich hervor. Man steht plötzlich davor wie vor einem Blumenbouquet der Baukunst.“

Wer bisher der Auffassung war, der Zionismus sei eine Reaktion auf die osteuropäischen Pogrome, der findet bei Melville Berichte von amerikanischen Juden, die versuchen, in Palästina zu Bauern zu werden.

Hermann Melville: Reisefresken dreier Brüder: Dichter, Maler, Müßiggänger — Tagebuch einer Reise nach Europa und in die Levante (1856/57) , aus dem Amerikanischen mit einem Nachwort und mit Anmerkungen versehen von Daniel Göske, illustriert von Georg Baselitz, Verlag Gachnang & Springer, 220 Seiten, 56 DM

MOSKAU

Boris Kagarlitzki hat aufgeschrieben, was er als antistalinistischer, sozialistischer Moskauer Demokrat vom Frühjahr 1990 bis Herbst 1991 beoachtete. Seit Frühjahr 1991 war er Abgeordneter des Moskauer Stadtparlaments. Es sind ernüchternde Berichte über einen Machtwechsel, der zu oft nichts ist als ein Etikettenschwindel, bei dem die früheren Kader der Nomenklatura verschwinden, um als Topmanager oder Aktienbesitzer an den neuen Machthebeln wieder aufzutauchen. Kagarlitzki erzählt davon mit erfrischendem Sarkasmus, mit einem Humor, der ihm den Kopf klarhält, um, trotz des Ärgers, der Wut, der bitteren Traurigkeit, die Dinge so zu sehen, wie sie sind, um ihnen vielleicht doch doch noch eine Wendung in Richtung Demokratie geben zu können. Kagarlitzkis Buch ist ganz sicher eines der erhellendsten Bücher über die jüngsten Entwicklungen in Rußland.

Boris Kagarlitzki: Die Quadratur des Kreises — Russische Innenansichten , Volk und Welt, übersetzt von Ganna-Maria Braungardt, 236 Seiten, 32 DM

GEISTERBAHNHÖFE

Wer vor der Wende mit der U-Bahn durch Ost-Berlin fuhr, der passierte leere Bahnhöfe, auf denen nur zwei mit Maschinenpistolen bewaffnete Soldaten patrouillierten. Ein erschreckender Anblick. Manche von uns haben diese Strecken gemieden, fuhren lieber mit dem Bus lange Umwege, weil sie das Gefühl hatten, wenn sie das sähen, müßten sie handeln, irgend etwas dagegen tun.

Thomas Wenzel und Michael Richter haben, sobald es möglich war, diese Bahnhöfe auf- und abgesucht, fotografiert und protokolliert. Makabre Ansichten. Alte Plakate des Ministeriums für Staatssicherheit gegen Nato-Agenten haben sich erhalten, Reklamewände aus den frühen sechziger Jahren, aber es gibt auch Fotos, die die Posten in ihren Kabäuschen zeigen, den ersten Arbeiter-und-Bauern-Staat auf deutschem Boden bewachend mitten im Verfall. Ein Abbruchunternehmen von Anfang an. Heinz Knobloch hat kleine Betrachtungen dazu geschrieben, die daran erinnern, was war, und die hie und da davor warnen, es sich zu einfach zu machen mit den Urteilen über die, die „drüben“ geblieben sind: „Die Schriftsteller reisten mit Dienstvisum, aber ohne Reisespesen. Sollte einer diese Gelegenheiten nicht nutzen? Obwohl es den DDR-Medien untersagt war, mit Beiträgen ,Reiselust zu wecken‘, stand einiges in unseren Büchern. Aber, was man auch schrieb, da war eine Scham. Eine innere Zensur. Mögen die vornehmen Feuilletons an Unterelbe und Rhein noch so sehr darüber spotten oder unsereinen verunglimpfen, diese ureigene Zensur befahl den Anständigen, sich nicht darüber zu verbreiten, warum es am Rhein so schön ist oder an der blauen Donau.“

Geisterbahnhöfe — Westlinien unter Ostberlin , Fotos von Michael Richter, Idee und Recherche von Thomas Wenzel, Texte: Heinz Knobloch, Ch.Links Verlag, 111 Seiten, zahlreiche s/w und farbige Fotos, 42 DM

TERRORISMUS

Kein Punkt, kein Komma. Man tut sich schwer mit der Lektüre. Die ersten 30 Seiten. Dann ist man gepackt. Die Geschichte Giangiacomo Feltrinellis, des millionenschweren linksradikalen Verlegers, der beim Versuch, einen Strommast zu sprengen, sich selbst tötete, wird aus verschiedenen Perspektiven erzählt. Keine davon ist die richtige, keine auch nur authentischer als die andere. Alle sind sie eingewoben in die dichte Textur der Prosa von Nanni Balestrini, der intime Beobachtungen, klassenkämpferische Aufrufe und Zeitungstexte so dicht aneinander schweißt, daß der Leser glaubt, jene bleierne Zeit noch einmal zu erleben. Der Verzicht auf Satzzeichen, der zuerst so künstlich, so maniriert wirkt, stört nach einer Weile nicht mehr, und dann entdeckt man, wie sehr er hilft, den Text zu verdichten, den Leser einzuspinnen in die Geschichte, die erzählte, und in die Erinnerung an die wirkliche. Der Terror, den Literatur ausüben kann. Der hier nur glückt, weil der leider ungenannt gebliebenen Übersetzerin Christel Fröhlich ein Meisterwerk gelungen ist.

Nanni Balestrini: Der Verleger , Verlag Libertäre Assoziation, 164 Seiten, 18 DM

RUSSLAND-BILDER

Die in Österreich geborene Inge Morath ist eine der bekanntesten amerikanischen Fotografinnen. Auch Mode und Glamour, aber vor allem Porträt und Atmosphäre. Im vergangenen Jahr erschien ein Buch mit ihren Aufnahmen aus Rußland. Fotos von Reisen, die sie allein oder mit ihrem Ehemann Arthur Miller von 1965 bis 1990 gemacht hatte. Bauernhäuser, die Vertreter der Intelligentsia, Architektur — ein ganzes Kapitel heißt „zaristische Räume“ —, Friedhofsplastik, Festessen bei Jewtuschenko, der Ort, an dem Raskolnikov die Ermordung der Pfandleiherin Ivanova plant, Ateliers und Kirchen. Verspielte Rokoko-Zartheiten wie das Aktgemälde der Zarin Elisabeth im Chinesischen Salon des Katharinenpalais und die strenge Avantgarde einer Modenschau von Slava Saitsev. Inge Morath hat es eingefangen und ausgestellt. Beim Blättern erfahren wir etwas von der Vielfalt Rußlands. Welches Vorurteil auch immer wir hatten, es wird als einseitig widerlegt. Das macht diesen Band zum besten Rußand-Bildband auf dem deutschen Buchmarkt. Wer nicht nur blättert, sondern sich Zeit nimmt für einzelne Bilder, der wird sich freuen, ein Foto zu sehen, das Josef Brodskij auf dem Dach der Peter-und-Pauls-Festung zeigt. Aufgenommen 1967. Aus dem gleichen Jahr eines einer alten Bäuerin mit herrlich großen Lippen. Es ist Nadesha Mandelstam. Texte gibt es auch. Sie stammen von Jevgenij Jevtuschenko, Andrej Voznesenskij und Olga Andrejev Carlisle.

Inge Morath: Russisches Tagebuch 1965-1990 , Christian Brandstätter Verlag, 132 Seiten, zahlreiche s/w und einige farbige Abbildungen, 69 DM

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