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An meine Mami laß ich keinen ran

■ Szenen von Wolfgang Mentzel und Studierenden der HdK im Bahnhof Westend

Du hast mir

die Milch

meiner Mutter verschüttet

Sagt der eine

und du mir

den Sprudel der Väter

Wer aber

vergriff sich

am Obstsaft der Tanten?

So dichtet Wolfgang Mentzel, der Regisseur, im Programmheft. Mütter und Väter und Kinder also: Es geht um Autorität und Nichtautorität, um autoritäre und nichtautoritäre Erziehung, um Liebe und Haß zwischen Eltern und zwischen Eltern und Kindern.

Unter dem Namen Schmerzverhütung ist im Bahnhof Westend an diesem Wochenende zum einzigen Mal eine Performance zu sehen, die Wolfgang Mentzel mit Studenten der Hochschule der Künste und Künstlern, die dort studierten, erarbeitet hat. Jeweils bei Einbruch der Dunkelheit kann sich das Publikum am unteren Eingang des Gebäudes an der Brücke Spandauer Damm sammeln. Ein gemischter Chor erwartet die Gäste und geleitet sie ins Haus, wo in sechs verschiedenen Lektionen Szenen zum oben genannten Thema gezeigt werden. Jeder — und jede — kann sich frei im Haus bewegen, von Raum zu Raum gehen, zuschauen, so lange es gefällt und weiterwandern. In jedem Raum spielen die Schauspieler ihre Szene immer wieder von vorn, so daß man, wenn man den Anfang verpaßt hat, einfach abwartet, bis das Spiel neu beginnt.

Da gibt es in einem mit durchsichtiger Plastikfolie abgetrennten Raum eine Szene, in der ein Kind geboren wird. Das Kind ist aber kein Säugling, sondern ein ausgewachsener Mann im Zwirn, der sofort anfängt, sich im Walzerschritt zu drehen. Ein Traum der Mutter wird wahr: Sie hat einen Tanzlehrer geboren, einen Tanzlehrer, wie sie sich ihn schon immer gewünscht hat. Unter den anfeuernden Zurufen des Vaters dreht sie sich glückstaumelnd, bis der Tanzlehrersohn das Spiel nicht mehr mitmacht. Und unter der immer weiter laufenden Klaviermusik kriecht er zum maßlosen Entsetzen seiner Eltern in den Mutterschoß zurück. Ausruf der Mutter: »Das macht er diese Woche schon zum dritten Mal.«

In einem anderen Zimmer liegt eine Schöne in aufreizendem schwarzem Kleid auf einen Diwan gebettet; ein Mann liegt ihr zu Füßen und über den Köpfen der beiden schweben wie Putten Gummigebilde (Mann und Weib) - Original aus dem Angebot der Beate Uhse. Zwei Meter entfernt dreht sich eine runde Scheibe, die mit einem Eisbärfell bespannt ist. Ein Mann, der dem Knienden am Bett aufs Haar gleicht, streckt alle paar Minuten alle viere von sich und schreit mit gellender Stimme: »Mama«! Die Männer erkennen sich einer im anderen und rivalisieren miteinander, bevor jeder sich seinem Begehren wieder zuwendet.

Der Chor begeleitet den ganzen Abend und zieht von Raum zu Raum. Am Ende sammelt er alle Leute zu einer Abschlußaktion auf dem Bahnsteig des Bahnhofs, von wo sie dann nach Hause entlassen werden.

Regisseur Mentzel hat die meisten Texte selbst geschrieben. Die Karl- Hofer-Gesellschaft, die das Bahnhofsgebäude gemietet hat, stellte die Räume zur Verfügung und gab 10.000 Mark. Davon wurde ein Teil der Ausstattung finanziert. Mit entsprechend geringen Mitteln, aber mit sehr schönen Ideen der Beteiligten, ist ein Ergebnis entstanden, das wirklich sehenswert ist. Sibylle Burkert

Heute, morgen und Sonntag, Beginn jeweils 21.30 Uhr. Karten 15 Mark, 10 Mark für Schüler und Studenten

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