: „Viel zu lange Esel gewesen“
40 Marokkaner wollen dem Zirkus Krone nicht mehr als billige Arbeitssklaven dienen/ Sie protestieren gegen Niedriglöhne und unmenschliche Unterkunft/ Doch wer aufmuckt, wird entlassen — und ausgewiesen ■ VON SABRINA RACHLÉ
Es stinkt. Abdul Z.* rümpft die Nase, deutet nach oben. „Das sind die Pferde.“ Über unseren Köpfen hören wir das Scharren und Stampfen von Hufen auf der Betondecke. Der Stalldunst mischt sich in den Geruch von Schimmel, der eine Wand bereits vollständig bedeckt. „An Regentagen kommt hier das Wasser durch“, sagt Abdul Z. Einige der vergitterten und fast blinden Oberlichter schließen nicht mehr ganz dicht.
Schlafen im Keller zwischen Stroh und Schimmel
Den Kellerraum erhellt das bleiche Licht einer Neonlampe. Hier wohnen und schlafen vier Männer. Zwei Stockbetten, fusselnde, dünne Schaumstoffmatratzen und abgegriffene Zudecken dienen als Nachtlager. In ausgedienten Bundeswehrspinden haben die Bewohner ihre Habseligkeiten verstaut. Einige große Bündel, die in den Schränken keinen Platz mehr hatten, sind auf ein zur Zeit unbelegtes Bett gestapelt. „So wohnen wir...“, meint Abdul, als wollte er hinzufügen: „Schlimmer als die Tiere.“ Aber vielleicht irre ich mich. In Abduls Stimme liegt nicht die Spur von Aggression. Der Marokkaner arbeitet als Tierpfleger beim Zirkus Krone. Einem der größten und renommiertesten Zirkusse Europas. Wir besuchen ihn im Stammhaus des Unternehmens in der Münchner Marsstraße. Heimlich. Denn offiziell darf Abdul hier unten keine Besucher empfangen. Eine Verbotstafel am Eingang soll ungebetene Gäste abschrecken. Immer mehr Männer drängen in das trostlose Zimmer. Begrüßen uns lächelnd. „Wirst du darüber schreiben?“ fragt einer. „Es ist gut, wenn geschrieben wird, wie wir leben“ — im feuchten Keller unter den Stallungen der Pferde, Ponys und Ziegen.
Die sanitären Anlagen sind vergammelt und versifft. Krone-Geschäftsführer Georg Klötzing macht die Marokkaner für diesen Zustand verantwortlich. „Die kochen da unten, ohne die Fenster zu öffnen. Da ist ja klar, daß Schimmel entsteht.“ An den Fenstern kann es nicht liegen; die lassen jede Menge Luft durch.
Hier unten hausen zu müssen ist schlimm genug, aber „immer noch besser als im Wohnwagen“, findet Abdul. Dort teilen sich zwei Männer ganze vier Quadratmeter. Im „größten Zirkus Europas“ leben die Männer hinter den Kulissen schlechter als jeder Hund, für den wenigstens sieben Quadratmeter als angemessen gelten. „Der Zirkus ist kein Nobelhotel“, verteidigt Krone-Anwalt Peter Frey diese katastrophalen Zustände. Der streitbare Schwabe betont in anderem Zusammenhang auch gerne die angebliche kulturelle Überlegenheit der „Mitteleuropäer“.
„Nur Marokkaner leben so“, erklärt Abdul. Zwar leben die Kollegen aus Deutschland und Osteuropa auch unter beengten Verhältnissen. Die marokkanischen Arbeiter jedoch wohnen in den mit Abstand schäbigsten Quartieren. Nicht nur die Qualität der Unterkunft, auch die Höhe des Lohns scheint sich beim Zirkus Krone an der Nationalität statt an der Art der Beschäftigung zu orientieren.
„Zirkus Krone ist doch schließlich kein Nobelhotel“
Arbeitskräfte aus Bulgarien beispielsweise verdienen im Schnitt 50 Mark mehr als ihre marokkanischen Kollegen, „obwohl wir viel länger dabei sind“. Abdul ist nicht wütend. Er wirkt traurig, zumindest aber enttäuscht.
Als Zirkusarbeiter sind Marokkaner beliebt, nicht nur bei Krone. „Andere Zirkusse arbeiten mit einer weitaus größeren Anzahl von Marokkanern“, bestätigt Klötzing. „Sie arbeiten gut, waren immer zufrieden. Bisher hatten wir nie Probleme mit ihnen.“ Es entspricht alter Tradition, daß Marokkaner die ungeliebten Tätigkeiten in Zirkussen verrichten. Als Moslems rauchen, trinken und spielen sie nicht, arbeiten fleißig und schnell. Perfekte Arbeitssklaven, die dem Zirkus als Tierpfleger, Hilfsrequisiteure oder Zeltarbeiter dienen. Ohne Mitarbeit der Nordafrikaner hätte Krone längst zumachen können. Der 1973 verfügte Anwerbestopp für Marokko war für das Unternehmen folglich eine mittlere Katastrophe. Einige Jahre konnten die Arbeiter als Artisten deklariert werden. Als die Sache 1985 aufflog, mußte Seniorchefin Frieda Sembach-Krone persönlich beim damaligen Kreisverwaltungsreferenten Peter Gauweiler (CSU) vorsprechen. Sie bekam ihre Sonderregelung. In einem Eilschreiben wurde die zuständige Behörde aufgefordert, die Aufenthaltserlaubnisse der Marokkaner unverzüglich zu erteilen: „In dieser Besprechung (...) wurde festgelegt, daß die (...) übergebenen Anträge auf Aufenthaltserlaubnis ausnahmslos zu genehmigen sind. (...) Grundlage für diese Entscheidung ist die Tatsache, daß (...) dieser Personenkreis für die Aufrechterhaltung des Zirkusbetriebs dringend erforderlich ist.“
Fatal an dem auf diese Weise behördlich genehmigten Beschäftigungsverhältnis: Die Aufenthaltserlaubnis gilt nur für die Dauer der Tätigkeit beim Zirkus Krone. Eine Abhängigkeit, die die Betroffenen auf Gedeih und Verderb dem Wohlwollen des Unternehmens ausliefert. Wer aufmuckt, fliegt raus und wird ausgewiesen.
Abdul hat Tee aufgegossen. Trotz der schlechten Bedingungen ist er stolz, bei Krone zu sein. „Wir wollen weiter hier arbeiten“, sagt er, und die Männer, die bisher nur still zugehört haben, nicken. „Aber der Zirkus will uns nicht mehr haben.“ 1989, erzählt Abdul, seien sie alle gemeinsam zum Personalchef gegangen. Sie baten um Anhebung des seit 1983 unveränderten Nettolohns von 891 Mark im Monat. Wie stets in solchen Fällen wurde die Bitte abschlägig beantwortet: „Wenn es Ihnen hier nicht gefällt, gehen Sie doch nach Marokko zurück.“ Daraufhin organisierten die Marokkaner in Eigenregie einen kurzfristigen Streik und erreichten dadurch die geringfügige Erhöhung ihres Monatslohnes auf 955 Mark und 1.000 Mark für Tierpfleger.
„Die Arbeitsverträge sind schlicht sittenwidrig“
Zum Eklat kam es allerdings erst im Herbst 1991. Bereits im Frühjahr hatte die Zirkusleitung ihren nordafrikanischen Arbeitern neue Arbeitsverträge zur Unterschrift vorgelegt. Darin sollten schlechtere Arbeitsbedingungen festgeschrieben werden. Es wurde keine Stundenzahl angegeben, die wöchentlich abzuleisten sei; Sonn- und Feiertage sowie Überstunden sollten durch den Nettolohn abgegolten sein; der bisher gewährte kostenlose Hin- und Rückflug einmal im Jahr sollte künftig ganz gestrichen werden.
Der Münchner Rechtsanwalt Andreas Bühler, der die marokkanischen Arbeitnehmer inzwischen vertritt, hält diese Verträge „schlicht für sittenwidrig“. Er riet daher seinen Mandanten von einer Unterschrift ab. Nur vier der 44 marrokanischen Arbeiter unterschrieben die Verträge, die übrigen weigerten sich und stehen seither auf der Abschußliste. Die Zirkusleitung überlegte sich sehr genau, wie sie die unbequemen Marokkaner am besten loswerden könne. In Brüssel, der letzten Station der 91er-Tournee, wurde den 40 Hartnäckigen die Entlassung mitgeteilt. Das Unternehmen hatte es sich ganz einfach vorgestellt: Die Aufenthaltsgenehmigungen der Marokkaner waren abgelaufen, in Brüssel wollte man sie ins Flugzeug setzen und damit das Problem aus der Welt schaffen. Doch Rechtsanwalt Bühler konnte rechtzeitig informiert, die Gewerkschaft alarmiert werden; gerade noch termingerecht gingen gleich zwei Pakete mit Kündigungsschutzklagen beim Personalchef ein. Die meisten Kündigungen mußten bereits außergerichtlich zurückgenommen werden. Die ersten fünf Kündigungsschutzprozesse hat der Zirkus verloren.
Doch wie es scheint, will die Zirkusleitung die lästig gewordenen Mitarbeiter unbedingt loswerden. Unter fadenscheinigen Begründungen werden Abmahnungen erteilt, um Kündigungsgründe gegen einzelne Mitarbeiter zu sammeln. Entlassungen werden ausgesprochen — und wieder zurückgenommen. Einige unter den vierzig Marokkanern fühlen sich vom Personalchef regelrecht terrorisiert.
Die Geschäftsleitung hingegen betont, ihr liege es vor allem daran, daß die Beschäftigten wieder „wie früher“ in Ruhe ihrer Arbeit nachgehen. Georg Klötzing äußert sogar den Verdacht, die Auseinandersetzung sei „von außen inszeniert“, die Marokkaner würden funktionalisiert. Klötzing behauptet, der Anwalt wolle sich zusammen mit den IG-Medien eine „goldene Nase“ auf Kosten des Zirkusses verdienen. Daß die Marokkaner unzufrieden sind, dafür hat Klötzing nur eine Erklärung: „Wenn's dem Esel zu wohl ist, geht er aufs Eis.“
Die Marokkaner fühlen sich durch den Personalchef terrorisiert
Andreas Bühler, für den der „Fall Krone“ einen Großteil seines Arbeitspensums ausmacht, hat Lohnnachforderungen in Höhe von 1,5 Millionen Mark allein für 1989 eingeklagt. Die bisherige Entlohnung verstoße möglicherweise sogar gegen gute Sitten, in jedem Fall aber gegen die arbeits- und tarifrechtliche Praxis in Deutschland. Der Zirkus, hat Bühler ausgerechnet, zahle nicht einmal das Lohnminimum, das bei vergleichbaren Berufen anzusetzen wäre. Ein Tierpfleger im Zoo beispielsweise verdient mindestens 3.000 Mark brutto mehr als die Arbeiter bei Krone.
Krone-Vertreter Frey hält von solchen Rechnungen gar nichts. Er bezweifelt, ob es überhaupt vergleichbare Tarifverträge gibt. „Ziehen Sie Ihre Forderungen zurück. Das wäre für Ihre Mandanten und den Betrieb eine Wohltat“, forderte er Bühler während des ersten Gütetermins vorm Münchner Arbeitsgericht auf. Würden die Forderungen durchgesetzt, drohe dem Zirkus der Ruin, behauptete der Krone-Vertreter. Eine Bilanz, mit der Krone seine Bedürftigkeit nachweisen könnte, will er jedoch nicht vorlegen. „Ihre Mandanten“, schimpft Frey, „können eine Bilanz doch gar nicht lesen!“ Bühler kann an einen drohenden Bankrott nicht glauben. „Zumindest an Sonntagen ist jede Vorstellung ausverkauft. Da kann man doch ganz einfach hochrechnen, wieviel allein an Wochenenden verdient wird.“ Trauriger Nebenaspekt der erwähnten Verhandlung: Die Marokkaner haben sich nicht den günstigsten Zeitpunkt für ihre Auseinandersetzung um angemessene Bezahlung und Unterbringung gewählt — Respektlosigkeit gegenüber Ausländern hat Hochsaison. „Wie heißen denn die Brüder?“, fragte der Arbeitsrichter nach den Namen der Kläger. Er vertraute offensichtlich darauf, daß die Betroffenen kaum Deutsch verstehen. Den abwertenden Tonfall indes kennen sie nur zu gut.
Frey fürchtet, die Marokkaner könnten die Gunst der Stunde nutzen, um sich mit einem Batzen Geld schnellstmöglich in Richtung Heimat abzusetzen. „Die Herrschaften sitzen dann in Marokko, wenn sie erstmal das Geld vereinnahmt haben“, spekuliert Krone-Anwalt Frey, der aus seinen Vorbehalten gegen die marokkanischen Arbeiter ohnehin keinen Hehl macht. Arbeitsrichter Rausch mahnte sogleich zu mehr Bescheidenheit: „Darüber müssen sich die Leute im klaren sein: Der wahre Geldsegen kann jetzt nicht losbrechen.“
Vor Gericht macht Zirkus Krone auf bedürftig
Wir trinken Tee. Mehmed* kramt ein Foto aus seinem Spind. „Meine Familie“, sagt er stolz. Mehmeds Frau hat das Foto gemacht, als er das letzte Mal zu Hause war. Im Arm hält er ein Baby, neben ihm stehen seine zwei Töchter. „Ahmed ist jetzt ein Jahr alt.“ Mehmed wird ihn, die Mädchen und seine Frau erst im Winter wiedersehen. Jetzt ist er längst wieder auf Fahrt quer durch Deutschland. Die Nächte zwischen den Aufführungsorten wird er — wie jedes Jahr — schlaflos in den Güterwaggons auf Stroh neben den Pferden verbringen. „Die dürfen nicht alleine gelassen werden.“ Eine Tätigkeit, die keinem Deutschen zugemutet wird. Der Gedanke an die Familie in Marokko hilft, das durchzuhalten. „Fast alle haben wir zu Hause eine Familie, Frau und Kinder. Ich wäre lieber in Marokko, aber es gibt keine Arbeit.“
Seit sechs Jahren ist Mehmed dabei. Für das Überleben, für die Kinder, die Frau, eine kleine Wohnung schuftet er elf Monate lang in Deutschland. Zwischen 70 und 77 Stunden in der Woche, sieben Tage hintereinander. Feiertage gibt es für ihn nicht. Maximal 3,68 Mark verdient er in der Stunde. Dafür gewährt der Zirkus freie Kost und Logis und jährlich einen Freiflug nach Marokko während der Wintersaison. Ein Monat Heimat, dann geht es wieder zurück. Lohnfortzahlung oder Urlaubsgeld für die freien Tage? Fehlanzeige.
In dem Kellerabteil wird es eng. Ein deutscher Beobachtungsposten hat mittlerweile im Vorraum Stellung bezogen. Die Fotografin huscht immer wieder hinaus, um Aufnahmen zu machen. Abdul zeigt mir zwei Kopien. „Hast du schon gesehen?“ fragt er und lacht dabei. Er lacht, weil es fast unglaublich erscheint, was diese zwei Zettel nahelegen. Von 1983 bis 1987 wurden die Männer hier ganz offensichtlich um ihre Lohnsteuerrückzahlung betrogen. Alljährlich füllte die Personalabteilung die entsprechenden Formulare für die Finanzbehörde aus. Einige Arbeiter unterschrieben, von anderen wurde die Unterschrift möglicherweise gefälscht. Doch trotz des niedrigen Verdienstes bekamen die Arbeiter kein Geld zurück. Mißtrauisch geworden, fragte einer von ihnen beim Finanzamt nach und erhielt den Bescheid: „Der Erstattungsbetrag in Höhe von 540 Mark erging am 9.11.88 per Zahlungsbescheid an X (Name der Redaktion bekannt).“
Niemand weiß, wer sich an den Geldern der Marokkaner bereichert hat. Unbekannt ist auch, wie viele Marokkaner auf diese Weise um ihr Geld geprellt wurden. „Die Leute haben Nettolohnverträge. Da gibt es keine Lohnsteuerrückzahlung“, behauptet Klötzing. Unklar bleibt jedoch, warum dann überhaupt Anträge gestellt wurden und weshalb die rückerstatteten Beiträge auf das Konto eines beim Zirkus unbekannten Mannes flossen. Seit 1990 ermittelt die Staatsanwaltschaft, bislang ergebnislos.
„Der Zirkus“, sagt Abdul bitter, „braucht Menschen, die arbeiten wie Esel. Wir sind lange Esel gewesen. Viel zu lange.“
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