: Dicke Luft in der Paul-Hertz-Siedlung
■ Gegen den vehementen Widerstand der Siedlungsbewohner will die GEWOBAG 493 Dachgeschoßwohnungen auf die Flachbauten setzen/ Schon 1989 versprach Bausenator Nagel ihnen Mitbestimmung; davon ist jetzt keine Rede mehr/ Aus Protest hoher Anteil von REP-Wählern
Charlottenburg. Irgendwann müssen alle Kaninchen der Stadt beschlossen haben, in die Paul-Hertz- Siedlung (PHS) umzuziehen. Auf den schmalen Grünflächen zwischen den Häusern hoppeln sie zu Hunderten umher und warten auf Salatreste, die ab- und an von den Balkonen herunterfliegen. Demnächst auch noch von den Dächern. Denn am 20. Mai teilte die Gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft (GEWOBAG) den 5.000 Bewohnern mit, daß alle vierstöckigen Gebäudezeilen — 38 an der Zahl — definitiv mit Dachgeschossen überbaut werden. Auf die Flachdächer sollen 493 Wohnungseinheiten im Fertigbaustil gesetzt werden. Die Arbeiten sollen im August beginnen und Ende 1994 abgeschlossen sein.
Für die Siedlungsbewohner ist diese Mitteilung ein Schlag ins Kontor. Denn seit drei Jahren kämpfen sie mit Unterschriftensammlungen, Klagen vor Gericht, Eingaben an die Politiker und Demonstrationen lauthals gegen die Dachaufbauten; zuletzt Mitte Mai mit Vollsperrung der beiden großen Stadtautobahnen an der Schnittstelle Jakob Kaiser Platz. »Die Politiker haben uns belogen«, sagt Gerda Bohn, 56, vor 30 Jahren als eine der Ersten in die Mustersiedlung gezogen und seit Jahren engagierte Vorsitzende des Mieterbeirates. Die Vorgänge um die PHS seien geradezu ein Musterbeispiel dafür, wie wetterwendig Politiker entscheiden. Ob eine schwarze Regierung (1988), eine rot-grüne (1989/90), oder eine schwarz-rote (seit Ende 1990), es sei immer das Gleiche. Die jeweiligen Regierungsparteien sind immer für die Dachaufbauten, die Oppositionsparteien immer dagegen, und ändern sich die Machtverhältnisse, dann ändern sich auch die Beschlüsse.
Besonders wütend ist Gerda Bohn auf ihren SPD-Parteigenossen, Bausenator Wolfgang Nagel. Denn nachdem 98 Prozent der PHS-Bewohner sich im Frühjahr 1989 gegen die zuvor von der CDU beschlossenen 220 Dachwohnungen sperrten, versprach der frischgewählte rot- grüne Bausenator auf einer Vollversammlung im Mai des gleichen Jahres: »Hier wird nur mit den Mietern oder gar nicht gebaut«.
Auf Beschluß der Charlottenburger BVV wurde deshalb eine Projektgruppe ins Leben gerufen, an der der Mieterbeirat, die GEWOBAG, Fachleute und die Senatsverwaltung mitarbeitete. Die »Planungsgruppe Vier (P 4)« legte ein städtebauliches Konzept für Ergänzungsbauten und zur Wohnumfeldverbesserung vor. 172 große Wohnungen sollten durch Überbauung der Einkaufszentren entstehen. Gegen den Lärm der naheliegenden Stadtautobahnen sollten Schallschutzfenster eingebaut und die Grünanlagen, einschließlich Kinderspielplätzen, verbessert werden. Gleichzeitig erstellte die ARGUS, (AG Gemeinwesenarbeit und Stadteilplanung) eine ausführliche Bewohnerbefragung. Ergebnis: Die Mieter in der PHS haben eindeutige Gründe gegen die Dachaufbauten. Es wohnen dort überproportional viele alte Menschen, mit hoher Gebietsbindung, langer Wohndauer und großer Wohnzufriedenheit. Sie fürchten durch eine Verdichtung des Wohngebiets, soziale Unruhe, Entfremdung, eine Verschlechterung der Infrastruktur, Bauschäden und vor allem den Dreck, Lärm und den Trubel der Bauarbeiter. In Erwägung der Gegenvorschläge und des Widerstandes der Bewohner lehnte deshalb die BVV im Juni 1990 den alten, noch von der CDU angeleierten Bebauungsplan ab und votierte für die erarbeiteten Alternativen.
Aber von all diesen von den Mietern akzeptierten Vorschlägen wollen der Senat und ihr jetzt schwarz- rot gewendeter Bausenator Nagel nichts mehr wissen. Die politische Lage habe sich seit dem Mauerfall geändert. Die Bürgerbeteiligung sei zwar gut und schön, aber sie dürfe nicht zu Lasten der Gesellschaft gehen. Solche Äußerungen wie damals würde er heute nicht mehr machen, sagte er — zuletzt auf dem Landesparteitag der SPD vor zwei Wochen. Eine Haltung, die der Charlottenburger Baustadtrat Claus Dyckhoff (SPD) nicht akzeptiert. »Die Bürgerbeteiligung schließt das Risiko ein, daß man Dinge revidieren muß«, sagt er. Bei den Demonstrationen gegen die Dachaufbauten und gegen den Bausenator marschierte er deshalb immer in der ersten Reihe mit. Er hält es für einen großen Fehler, daß die Alternativen von der »P 4« jetzt im Mülleimer verschwinden, und daß das von der GEWOBAG ohne Mieterbeteiligung erarbeitete Konzept gegen die Bewohner durchgepeitscht werden soll. Nicht, wie noch zu CDU-Zeiten, 220 mittelgroße Dachwohnungen, erst recht nicht die rot- grünen »P 4« Vorschläge von 172 familiengerechten Wohnungen, sondern jetzt 493 Einheiten (nur Ein-und Zweiraumwohnungen!) sollen im Schnellverfahren auf die Flachdächer geklotzt werden. Gleichzeitig ist eine komplette Wärmedämmung der Häuser vorgesehen, dafür aber kein Einbau der dringend benötigten Lärmschutzfenster. »Wir hängen am Tropf des Senats«, sagt Vorstandsassistent Georg Pietzuch, »für Lärmschutzfenster haben wir kein Geld«; und weiter: »Die Probleme der Siedlung bestehen unabhängig von den Dachausbauten«. Der Bauvertrag mit einem dänischen Unternehmen soll in den nächsten Wochen unterschrieben werden. Die Aufbauten sollen pro Häuserzeile jeweils nicht länger als drei Monate dauern.
»Was für ein Unsinn«, sagt Gerda Bohn. Sie befürchtet eine Bauzeit von zehn Jahren. Am meisten empört sie aber der Wortbruch des Bausenators. Seit 1989 habe sich Nagel nicht ein einziges Mal in die Siedlung getraut und den Mietern die gewendete Linie erklärt. Aus Protest gegen dessen Unglaubwürdigkeit plant sie deshalb eine Aktion, die für sie bitter ist. Für ihr langjähriges Engagement als SPD-BVV Abgeordnete, und weil sie sich, so steht es in der Urkunde »so intensiv um die Belange der Mieter gekümmert habe« erhielt sie im Juli 1990 das Bundesverdienstkreuz. Und ausgerechnet Nagel hatte es ihr im Auftrag des Bundespräsidenten an die Brust geheftet. Jetzt möchte sie es ihm öffentlich vor die Füße werfen. Ihre Glaubwürdigkeit um Mieterbelange verlange dies, sagt sie.
Viele PHS-Mieter reagierten auf Nagels Wortbruch unpolitischer. Aus Protest gegen die etablierten Parteien wählten sie bei der BVV- Wahl im Mai durchschnittlich zu 18 Prozent die Republikaner. In einem der vier Stimmbezirke gar zu 23,5 Prozent. »Erschütternd«, aber nicht erstaunlich sei das Wahlergebnis, sagt Gerda Bohn »denn die sahnen ab, was andere eingerührt haben«. Wie es weitergeht, soll heute auf einer Mietervollversammlung besprochen werden. Die GEBOWAG, die sonst immer die Einladungen verschickt, hat sich diesmal geweigert. »Denn der Beirat soll kooperativ mit uns zusammenarbeiten«, sagt der Pietzuch, »und nicht auf Konfliktkurs gehen«. Anita Kugler
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