: Berti und der Wink Gottes
Um Haaresbreite rettete das deutsche Team dank eines allmächtigen Verbündeten ein 1:1 gegen die GUS, und es war am nächsten Tag bereits wieder obenauf/ Thomas Häßler als Götterbote ■ Aus Atvidaberg Matti Lieske
Als Bundestrainer Berti Vogts am Tag nach dem wundersamen 1:1 gegen die Nachfolgeorganisation der sowjetischen Sbornaja mit seinen zähen Statements die gewohnte wüstenartige Trockenheit in der Sporthalle des Hotel „Stallet“ verbreitete, waren Entsetzen und Euphorie gleichermaßen aus den Gemütern der deutschen Mannschaft verflogen. An die Stelle des Schreckens über die Beinahe-Niederlage und des Jubels über den Ausgleich in letzter Sekunde war schon wieder zuversichtliche Gelassenheit getreten — ein psychischer Aggregatzustand, der wohl kaum in dem am Vortag gebotenen fußballerischen Trauerspiel wurzeln konnte.
Eine Stunde lang hatte sich das deutsche Team in purer Einfallslosigkeit geübt und den Angriffen der technisch weit überlegenen Gegner Tür und Tor geöffnet, in der letzten halben Stunde nach dem 0:1 waren die teutonischen Spieler dann mit der Brechstange über die erlahmenden Ex-Sowjets hergefallen, hatten die Bälle meist in hohem Bogen nach vorne gebolzt und dennoch einen Freistoß zum erlösenden 1:1 gebraucht. Hinterher feierten Vogts und seine Mannen diesen „hart erkämpften schweren Punkt“, der die Tür zur Europameisterschaft gerade noch am Zuschlagen hinderte, unisono als spielerische Steigerung, „auf die wir aufbauen können“. Der Bundestrainer gab allerdings zu, daß die erdrückende Überlegenheit der Deutschen in der Schlußphase vor allem auf taktische Fehler des GUS- Trainers Anatoli Byschowetz zurückzuführen war, dessen Mannschaft sich in der eigenen Hälfte einigelte und nur noch bestrebt war, das Ergebnis über die Zeit zu retten. „Hätte er einen zweiten Stürmer gebracht“, so Vogts, „hätten wir das Spiel nicht mit Unentschieden beenden können.“
Auch vorher waren die russischen Stürmer recht gnädig mit dem Weltmeister umgesprungen. Schüsse auf das Tor verabscheuen sie wie die Planwirtschaft, statt dessen befleißigen sie sich jener Art von Kombinationsfußball, mit der Spartak Moskau in den letzten Wintern die hiesigen Hallenturniere belebte. Verspielt wird der Ball so lange umhergeschoben, bis auch der letzte freie Weg zum Tor verstellt ist, die von den Deutschen großzügig gewährten Freiräume wurden nicht zielstrebig genutzt, beste Konterchancen leichtfertig verschusselt.
Zum Sieg hätte es dennoch gereicht, stünde Berti Vogts nicht eine höhere Macht zur Seite. „Das war ein Wink Gottes“, analysierte der Coach messerscharf, schließlich habe 1988 der spätere Europameister Niederlande gegen die UdSSR im ersten Spiel sogar verloren. Staunend mußte die Öffentlichkeit zur Kenntnis nehmen, daß sie beileibe kein gewöhnliches Fußballspiel gesehen, sondern einem Ereignis von biblischen Dimensionen beigewohnt hatte. „Wenn es eine Gerechtigkeit gibt, dann ist sie gestern eingetreten“, verkündete der Bundes-Moses und ließ en passant auch noch prophetische Fähigkeiten aufblitzen. „Das wird dein großes Jahr. Du schießt noch ein Tor“, will Vogts in der Halbzeit zu Thomas Häßler gesagt haben, und als dieser sich in der letzten Minute den Ball zum Freistoß zurechtlegte, habe er, der Bundestrainer, zu seinem Assistenten Rainer Bonhof gesagt: „Thomas geht jetzt hin und haut ihn rein.“ Der heilige Thomas tat wie geheißen, zirkelte den Ball ins rechte obere Eck und ließ danach eine beeindruckende Gedankenkongruenz mit seinem Vorgesetzten erkennen: „Ich habe den anderen gesagt, sie sollen weggehen, damit ich mich konzentrieren kann, dann bin ich hingegangen und habe ihn reingehauen.“ Hallelujah!
Was der Bundestrainer in der Halbzeit zum indisponierten Stefan Reuter gesagt hat, behielt er für sich. Vermutlich etwas in der Art wie: „Das ist nicht dein Tag. Du wirst heute noch einen Russen fällen.“ Und bevor der Hahn dreimal krähte, in der 64. Minute, streckte Reuter im Strafraum Igor Dobrowolski zu Boden, der den fälligen Strafstoß gleich selbst zum 1:0 verwandelte. Danach wurde Reuter gegen Klinsmann ausgewechselt, zur weiteren Zukunft des Neu-Dortmunders wollte sich der Coach aber nicht äußern. „Wann ist Reuters nächstes Länderspiel“, wurde er gefragt, doch Vogts mit Ironie zu kommen ist etwa so hoffnungslos, wie einer Kuh die Abseitsregel zu erklären. „Unser nächstes Länderspiel ist am Montag“, verriet er voller Ernst, und die Aufstellung werde bekanntlich erst eine Stunde vor Beginn verraten. „Aber wir machen uns natürlich Gedanken und werden eine vernünftige Aufstellung präsentieren.“ Na, dann ist ja alles gut. Für das heutige Spiel gegen Schottland waren alle erstaunlich optimistisch, was vermutlich zum einen am vorausgesetzten göttlichen Beistand liegt, zum andern am durch kein Debakel zu erschütternden Glauben an die eigene Überlegenheit. Franz Beckenbauer hatte mit der (historisch falschen) These von der Unschlagbarkeit des vereinten Teams den Grundstein gelegt, Vogts strickt eifrig weiter an der Mär von der deutschen Großartigkeit. „Wir sind stark genug, jedem Gegner unser Spiel aufzuzwingen“, behauptet er, und seine Götterboten beten diese hoffärtige These, die Selbstbewußtsein leicht in Arroganz umschlagen läßt, brav nach. „Wenn wir normal spielen, können wir jeden schlagen“, meint Stefan Effenberg, das Wichtigste sei, „daß im Mittelfeld Ordnung herrscht“.
Dafür will mit einer neuartigen Schreitherapie Andreas Brehme sorgen, der nach dem Armbruch von Rudi Völler die Kapitänsbinde übernimmt. „Wenn eine Mannschaft leise ist, gewinnt sie keine Europameisterschaft. Wir müssen uns auf dem Feld viel mehr anschreien“, hat Brehme erkannt und verspricht, mit phonstarkem Beispiel voranzugehen. Sollten die Deutschen gegen Schottland also auch nicht besser spielen, so doch wenigstens lauter. Vielleicht werden sie ja an höherer Stelle erneut erhört. Brehmes Gebrüll in Gottes Ohr.
GUS: Charin (Armeeklub Moskau) — Tschernyschow (Spartak Moskau) — Oleg Kusnezow (Glasgow Rangers) — Zwejba (Dynamo Kiew) — Kantschelskis (Manchester United) — Dimitri Kusnezow (Espanol Barcelona) — Michailitschenko (Glasgow Rangers) — Dobrowolski (Servette Genf) — Schalimow (Foggia) — Iwanow (Sp. Moskau) — Kolywanow (US Foggia) — Ljuty (MSV Duisburg) — Onopko (Sp. Moskau).
Tore: 0:1 Dobrowolski (63.), 1:1 Häßler (90.).
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