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Großvater schläft

■ Maurice Béjarts „Mr. C...“ ist eine gelungene Hommage an Chaplin

Mit einem Mal liegt Melancholie in der Luft. Etwa ein halbe Stunde vor der Uraufführung von Mr. C... führen die Besucher im Recklinghausener Festspielhaus zerbrechliche Gespräche und gucken auf das Programmheft. Die 32jährige Annie Chaplin ist dort abgebildet mit dem seltsam autistischen Blick eines verzweifelten Stummfilmclochards. Im Hintergrund des Fotos bedroht der Choreograph Maurice Béjart mit einem Holzstock ein Chaplin-Double. Die Tochter steht mitten im Mythos des Vaters, doch sie wendet sich ab. Kaum einer wußte bis zu diesem Abend, daß in Béjarts Stück über den größten Komiker des Jahrhunderts dessen zweitjüngstes Kind und der etwa zwanzigjährige Enkel Charlie Bubbles mitwirken werden. Der Name Chaplin ist riesig, der Name Béjart ist groß, und nun auch noch die Fanmilienbande. Im Genuschel vor der Aufführung: „Glaubst Du, daß das gutgeht?“

Nein, ein großer Tanztheaterabend ist es nicht in Recklinghausen, und das ist auch gut so. Die Geschichte ist klein, nicht mehr als eine Hommage, eine gewitzte und erst am Ende sentimentale Annäherung. Da versuchen Annie und Charlie (die nebst Béjart auch an den Dialogen arbeiteten) ein Ballett über Chaplin zu erstellen und jagen dafür die ganze Truppe Béjarts durch eine Film- und Anekdotentour, die das Riesenensemble aus Lausanne im Rhythmus des berühmten Charlots meistert. Auf der bis auf Spiegelwände leeren Bühne sitzt die quirlige Annie mit ihrem Lockenkopf genervt auf einem Holztisch und ruft Tänzerinnen und Tänzer zum Auswahlcontest auf die Bühne: „Next one!“ Jeder hat hier sein kleines Kabinettstückchen mitgebracht, die eine macht auf femme fatale, der nächste auf Romeo, zwei Fußballer führen ein schwules Umarmungstänzchen auf, und alle Bewerbungen werden mit Rotlicht und greller Sirene unterbrochen. Nur vordergründig banal, liegt in der hochkomödiantischen Nummernrevue doch der prinzipielle Kern: Die Reminiszenzen sind als solche immer nur Tanzversuche, den puren Ausdruck alleine in der Körperlichkeit zu finden — eine Fähigkeit, die Charlie Chaplin gerade zu seiner Stummfilmzeit wie kein anderer beherrschte.

Die mitunter explosive Annie Chaplin (die unter anderem auch in Robert Altmans Vincent & Theo mitwirkte) ergänzt sich dabei unschwer mit ihrem leisen, sehr fein agierenden und gar nicht an den Großvater gemahnenden Neffen Charlie Bubbles, der zwischen den frei verfremdeten Fragmenten aus Chaplins Filmen von seiner Kindheit erzählt. Die Geschichte etwa, als beim Kindergeburtstag alle Freunde den berühmten Großvater sehen wollten, der nun aber weißhaarig und schlafend vor dem Fernseher saß. Doch so oft Annie und Charlie das Ende der Figur und die Sehnsucht nach dem Menschen auch beschwören, die Musik Chaplins — etwa die traurige Melodie aus Limelight — erklingt vom Band oder aus Luis Albes Piano am Bühnenrand immerfort und setzt den Maßstab, aus dem selbst die Tochter nicht mehr ausbrechen kann. Nicht pathetisch, sondern komisch ruft sie irgendwann mit großen Augen in kernigem Englisch: „Um Himmels Willen, der Mann ist ein Mythos. Daddy, du gehörst der Allgemeinheit!“

Vermutlich betobt das begeisterte Publikum am Schluß eben doch nicht nur den alten Mann auf dem großen Foto, der — den Hut zum Abschied nehmend — sich in wehendem Mantel auf eine Strandwanderung begibt. Hier eben setzt der Funken Sentimentalität ein, der auch am Ende von Chaplins Filmen das versöhnliche Ende mit einem Betrachtertränchen garniert. Das Konzept der Hommage geht auf: Béjart und sein in königlicher Professionalität eingespieltes Ensemble melden sich nach mancher Unbedarftheit zurück und verschaffen den „Ruhrfestspielen“ ihr erstes Hightlight. Man möchte allerdings wetten, daß nicht zuletzt Annie Chaplin und Charlie Bubbles den mitunter größenwahnsinigen Franzosen vor einem Höhenflug bewahrt haben.Alexander Gorkow

Bis zum 21.Juni um 18 oder 19.30 Uhr im Recklinghausener Festspielhaus zusammen mit einer Neueinstudierung des Béjart-Erfolgs von 1958: Le Sacre du Printemps . Informationen unter Tel.: 02361/9184402.

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