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An der Neiße ein Triangel im Herzen Europas

Zwischen Zittau, Liberec und Jelenia Gora sollen sich Grenzen öffnen/ Die Grenzregionen Oberlausitz, Niederschlesien und Nordböhmen gründeten das Projekt „Euro-Region Neiße“ — ein Musterbau für das Europäische Haus/ Vorurteile und Schwellenängste müssen noch überwunden werden  ■ Von der Neiße Detlef Krell

Kein Zaun, keine Mauer. Drei weiße Grenzsteine stehen in der Flußaue. Sie tragen das polnische, das tschechoslowakische und das deutsche Wappen. Der Wanderweg von Harthau nach Zittau begegnet hier dem noch schmalen Lauf der Neiße. An den Ufern tummeln sich Wasservögel, und auf den Wiesen weiden Schafe. Unter dem Wegweiser, der die Touristen an das Dreiländereck erinnert, lädt eine Sitzbank zur Rast ein. Einige Schritte weiter, in der Gärtnerei, schlägt der Hund an. Ein untersetzter, wettergegerbter Mann tritt heraus, der „südöstlichste Gärtner Deutschlands“. Darüber würden sich aber nur die JournalistInnen freuen, winkt er ab. Ihm stehe das Gemüse bis zum Hals. „Wissen Sie, was ich kriege fürs Bund Radiesel? Dreißig Pfenig. Und wovon soll ich leben? Schafswolle hat mir immer 10.000 Mark gebracht. Hier lagert Wolle noch von zwei Jahren.“ Er habe mit seinem Familienbetrieb in der vierten Generation „auch unter Erich“ durchgehalten, unter Bedinungen, „die ich nie jemandem wünschen würde. Aber ich mußte noch nie so viel eßbare Produktion vernichten wie heutzutage.“ Der Markt ist voll in Zittau, der alten Gärtnerstadt, mit Gemüse aus den Niederlanden und Billigangeboten polnischer und tschechischer Bauern. „Ist das Marktwirtschaft, daß einer den anderen bescheißt?“ wundert sich der Sechzigjährige resigniert.

Der Markt floriert dank Währungsgefälle

Knapp eine halbe Wegstunde entfernt, dem Lauf der Neiße folgend, kreuzt der Wanderweg die „Friedensgrenze“. Die Brücke mit dem pathetischen Namen führt nach Sieniawka. Auf polnischer Seite stauen sich Brummis kilometerweit in Land und Feld. Die Häuser an der Bogatynska, der Dorfstraße, die zum Grenzübergang führt, drohen unter dem unablässigen Gedröhn der Laster einzustürzen. Freundlicher und bunter ist das Treiben auf dem Dorfplatz. Dort ist, wie jeden Tag, Markttag. Schafsfelljacken und Käse, Kartoffeln und Eier, Körbe und Ledertaschen; die Waren der Region werden neben gewöhnlichem Supermarktkram in dem verwinkelten Budenstädtchen feilgeboten. Und auf dem Währungsgefälle floriert das Geschäft. Ein älterer Mann schiebt seine fahrbare Einkaufstasche zu den Kartoffeln und plauscht eine Zigarette lang mit den polnischen Bauern. Frauen begrüßen sich bei den Kleidern, und Kinder wischen um die Stände mit den Kassetten herum. Die Marktsprache ist Deutsch, und bezahlt wird in D-Mark. „Auf dem polnischen Wochenmarkt sind die Grenzen schon am weitesten überwunden“, meint Thomas Pilz, „drüben“ in Zittau. „Die Leute reagieren einfach auf ihre krasse Situation: keine Arbeit, kaum Hoffnung auf einen neuen Job. Da gehen die Zittauer billig einkaufen, und die Polen sind froh, wenn ihnen der Handel etwas Lebensunterhalt einbringt.“ Thomas Pilz arbeitet im Zittauer Multikulturzentrum und ist kommunalpolitischer Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen in Sachsen. Vor einem Jahr gehörte er zu den OrganisatorInnen der ersten „Euregio-Konferenz“. Damals vereinbarten die Grenzregionen Oberlausitz, Niederschlesien und Nordböhmen, im Herzen Europas einen länderübergreifenden Regionalplan zu erarbeiten und die Euro-Region Dreiländereck zu gründen.

Inzwischen ist die „Euro-Region Neiße“ ein eingetragener Verein. „Die Idee mußte irgendwie institutionalisiert werden und einen Namen bekommen“, erklärt Thomas Pilz. „Was in den sechs Arbeitsgruppen passiert, muß öffentlich, demokratisch beeinflußbar sein. Die Leute hier sollen verstehen, daß es nicht um drei Länder geht, sondern um eine Region. Dazu gehört auch, daß Löbauer in Rumbruk arbeiten gehen und umgekehrt. Das muß politisch vermittelt werden.“

Das Euregio-Büro ist ins „Weiße Haus“ gezogen, das einstige Stasi- Hauptquartier der Stadt. Hier glühen die Drähte nach Dresden, Bonn und Brüssel. Gelder fießen nur spärlich für die grenzüberschreitenden Projekte. Manche Idee liegt in der Schublade und harrt der Zuwendung durch die „Gemeinschaft“, der zwei dieser drei Euregio-Länder noch nicht angehören. Für 2,9 Millionen DM ist bei der EG eine Studie für das Wirtschaftskonzept der Region angemeldet. Dieter Liebig, Landrat von Görlitz und einer der drei Präsidenten der Euro-Region, erhofft sich von dieser Studie „Investitionen nach dem Willen der Gemeinschaft“. Es müsse deutlicher werden, daß die gesamte Euro-Region Neiße ein gemeinsamer Wirtschaftsstandort und Arbeitsmarkt ist, beschrieb er kürzlich auf einer Konferenz seine Vision von einem „Europa der Regionen“.

Leider illustrieren diesen Wunsch bis heute am sinnfälligsten die grenzenlosen Umweltschäden. Gleich hinter dem Dorfplatz von Sieniawka klafft ein Tagebau, der schon mehrere Dörfer verschlungen hat und bis heute das Braunkohlekraftwerk Turow versorgt. Dessen Riesenblöcke thronen allgegenwärtig am Rande der Grube. Rauch vernebelt die Sicht auf das nahe Gebirge, und ein dünner Gestank nach fauligen Eiern läßt den Kopf schmerzen.

Zwischen Kraftwerk und Grube klemmt das Städtchen Bogatynia. Manche Straßenzüge haben sich über die Jahrhunderte erhalten, andere sind längst weggebaggert. Bürgermeister Franciszek Zaborowski weiß, daß auch die Zukunft Bogatynias in der Kohle liegt. Zunächst solle Turow endlich Fernwäme vor die Haustür liefern, in die Häuser von Bogatynia.

Jelenia Gora ist eine Industriestadt am Rande des Riesengebirges. Hier leben 50.000 Menschen. Ihr Marktplatz mit dem prachtvollen Rathaus ist eine lebendiges Museum der Renaissance. Die Bürgerhäuser sind erst Mitte der achtziger Jahre rekonstruiert worden. Von dem strahlenden Weiß der Fassaden ist nicht mehr viel geblieben, die ätzenden Fahnen der Industrieschlote ziehen unablässig ihre Spuren. Jelenia Gora ist Hauptstadt einer Wojewodschaft, in etwa vergleichbar mit einem deutschen Bundesland. Wojewode Jerzy Nalichowski gehört dem Präsidium der Euro-Region Neiße an. Er wünscht sich, daß die mit Baudenkmälern der Jahrhunderte und einer malerischen Landschaft gesegnete Region bald vom Tourismus leben kann. Eine Zukunft ohne die Energieversorgung aus Turow ist für ihn jedoch „undenkbar“. Zwei deutsche Konzerne, Siemens und ABB, stehen bereits an der Tür und wollen die Installation von Entschwefelungsanlagen übernehmen. Turow möchte die deutschen Investitionen mit Energie bezahlen, wenn Warschau diesen Deal genehmigt. „Wenn es uns nicht gelingt, bis 1995 die Emissionen bedeutend zu verringern, wird das Kraftwerk geschlossen.“

Für die Umgebindehäuser von Wigancice kommt jede Hilfe zu spät. Am Rande des Tagebaukraters gelegen, beherbergt dieses Dorf nur noch ein Häuflein Menschen. Bald werden auch sie in Bogatynia wohnen, denn die Abraumhalden wehen Gift ins Dorf. Zurück bleiben einzigartige Zeugnisse einer nur in dieser Region gewachsenen Volksarchitektur. Umgebindehäuser waren den böhmischen, schlesischen und Oberlausitzer WeberInnen Wohn- und Arbeitsstsätte zugleich. Weil Platz rar war in den ebenerdigen Stuben, setzten sie darüber, auf einem Umgebinde aus hölzernen Bögen und Säulen, noch ein Fachwerkgeschoß. Tausende dieser Häuser stehen im Dreiländereck, viele in einem beklagenswerten Zustand. Aber sie „umbinden“ bis heute auch eine Alltagskultur, die für gemeinsame historische Wurzeln im Herzen Europas spricht.

Am Tagebaukrater von Wignacicen steht ein zweistöckiges, mit einem Laubenvorbau versehenes reich verziertes Umgebindehaus, das es in dieser Form nicht noch einmal gibt. Der Zittauer Lehrer Peter Dorn wollte mit SchülerInnen aus den drei Ländern an diesem und anderen Häusern arbeiten, sie vor dem Verfall bewahren. „Es gibt auf beiden Seiten Euphorie und Sabotage“, faßt Lehrer Dorn seine Erfahrungen nach dem ersten Jahr Euro-Region zusammen. Während einige Enthusiasten um die Denkmale gemeinsamer Kultur ringen, tobt in den sächsischen Rathäusern der Streit um die Kreisreform. „Jeder Kreis sieht nur seine Zukunft, seine Arbeitsplätze, eigentlich müßten sie an einem Tisch sitzen. Die Luft ist raus aus dem Projekt.“ Doch die Grenzen stehen. Die Kirche von Wignacice liegt im Tschechischen, und der nächste Grenzübergang ist weit. Wälder und Bäche, winzige Dörfer und wehrhafte Burgen säumen die Straße nach Böhmen, die sich in Serpentinen das Isergebirge hinaufwindet. Eine Landschaft wie im Märchen. Im Riesengebirge haust Rübezahl, und die Schneekoppe ist tatsächlich weiß. Weiß sind die Bergrücken nicht nur vom Schnee. Silbriggrau steht dort der Wald wie sein eigener Friedhof. Nur noch die Baumstämme sind im sauren Regen geblieben, und sogar die wenigen Schonungen tragen bereits gelbe Nadeln als Male des Todes.

Tourismus heißt die Zauberformel

Unterhalb des verbotenen Gipfels kehrt die liebliche Landschaft bald wieder. Im Tal liegt die alte Glasmacherstadt Jablonec, die den weltweiten Ruf böhmischer Gläser lebendig hält, größte Stadt der Euro-Region ist mit 100.000 EinwohnerInnen das nordböhmische Liberec, einst glanzvolle Handwerkerstadt. Jiŕi Drda als tschechischer Präsident der Euro- Region zweifelt nicht daran, daß eine grenzüberschreitende, wirtschaftliche Zusammenarbeit „schon bald“ helfen kann, die ein Menschenalter lang benachteiligte Region wieder ins Herz Europas zu rücken. „Tourismus und traditionelles Gewerbe“, so heißt die Auferstehungsformel für Liberec wie für Zittau und Jelenia Gora.

Wenn nur die Leute mitmachen. Luboś Pŕihoda, Chefredakteur der Lokalzeitung 'Region‘, registriert sehr sensibel, wie Deutsche und Tschechen noch an den Wunden ihrer Geschichte leiden. „Beide Seiten sind unzufrieden mit dem Nachbarschaftsvertrag. Hier haben die Leute Angst um ihre Häuser, mit dem Wort ,Vertreibung‘ sehen sie sich auf einmal als ,Volk der Täter‘ kriminalisiert.“ Vorurteile und Schwellenangst überwinden möchte Andreas Schönfelder (Neues Forum). Er, stellvertretender Bürgermeister von Großhennersdorf, baut in seiner Gemeinde mit jungen Leuten ein Internationales Begegnungszentrum auf— in einem tpyischen Lausitzer Vierseitenhof mit Umgebindehaus.

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