: Käpt'n Kohl hält klaren Kurs im Nebel
Kleiner Parteitag der CDU in Bonn: Der Kanzler verspricht „Orientierung für Deutschland“, doch bietet nur leere Worthülsen an/ Für eine „Neuordnung der Prioritäten“, aber welche? ■ Aus Bonn Tissy Bruns
„Orientierung für Deutschland“ stellte die CDU gestern in Aussicht. So jedenfalls lautete das Motto für den Bundesausschuß, den „Kleinen Parteitag“, der Parteiprominenz und Delegierte gestern im Saal des Konrad-Adenauer-Hauses versammelte. Das höchste Gremium zwischen den Parteitagen hatte den formalen Zweck, den neuen Generalsekretär zu berufen, jedenfalls vorläufig, bis der ordentliche Parteitag im Herbst ihn wählen wird. Der Rühe-Nachfolger Peter Hintze, mit dem die Union in das Superwahljahr 1994 gehen wird, erhielt denn auch mit 113 Ja- und 14 Neinstimmen ein ordentliches Ergebnis. „Orientierung“ versprachen indes die Reden von Helmut Kohl, Kanzler und Parteivorsitzender, und Wolfgang Schäuble, Fraktionschef der Union. Als einander ergänzend seien die Reden zu verstehen, so Kohl, sein Bericht zur politischen Lage und Schäubles zur den konkreten Vorhaben der Fraktion gehörten zusammen.
Das „politische Großklima“, so hatte sich für den eben aus Rio zurückgekehrten Staatsmann Helmut Kohl auf seinen letzten Auslandsreisen bestätigt, ist in allen westlichen Demokratien „für die klassischen Volksparteien schwierig“. Denn von den dramatischen Veränderungen in der Welt fühlen sich viele überfordert, deutsche Einheit inklusive, die „als ein Geschenk der Geschichte auf uns gekommen ist“. Kohl ortete auch „Wohlstandsängste“. Klaren Kurs halten, „auch wenn andere opportunistisch schwanken“, sei spätestens nach den Wahlverlusten geboten. Deutschland und Europa waren die Hauptthemen der Kanzlerrede, und Kohl entschied bei beiden Komplexen für den historischen Zuschnitt. Zu Deutschland: „Niemand hat das Recht, so zu tun, als hätte sich in Deutschland nichts geändert“, „wir können nicht so weitermachen wie bisher“, „neue Prioritäten“. Die wichtigste Aufgabe sei es, im „geistigen Miteinander die deutsche Einheit zu verwirklichen“. Wozu alle berufen sind, die Union aber ganz besonders, weil sie immer an der deutschen Einheit festgehalten habe. Im „linken Spektrum“ — der Kanzler meint vermutlich die SPD — herrsche hingegen Orientierungslosigkeit. „Geschichte“, die „ethischen Grundlagen der Union“, die „gesamtdeutsche Solidarität“ — Helmut Kohl hielt sich in großdimensionierten Räumen auf.
Knapp anderthalb Jahre wahlfreier Zeit bis 1994 sieht Kohl zum entschlossenen politischen Handeln— und zwar wie gehabt. Zur Koalition gibt es keine Alternative: Freundlichkeiten in Richtung FDP und CSU. Wer die Ostdeutschen in einer eigenen Partei zusammenfassen will, „erreicht überhaupt nichts“. Die „Neuordnung der Prioritäten, Vorfahrt für die neuen Länder“ heißt als praktische Politik: die bereits bekannten (und umstrittenen) Haushaltseckpunkte von Finanzminister Theo Waigel einzuhalten. Denn soviel ist klar: „Wir werden die Wahlen 1994 nur gewinnen, wenn wir den Haushalt in Ordnung halten.“ Und auch dieses Mal ließ der Kanzler im dunkeln, was es denn heißt, wenn „über die neuen Prioritäten bei den Sozialleistungen“ gesprochen werden soll. Um so kräftiger warb der Kanzler für Europa, streifte noch Rio, das Grundsatzprogramm der Union und die Gewissensfreiheit. Die Delegierten bedankten sich mit mattem Beifall. Helmut Kohl, der Versammlungen seiner Partei immer wieder zu Standing ovations hinreißen konnte, nahm es gelassen.
In unerschütterlicher Ruhe verfolgte der Parteichef die redliche Vorstellungsrede des neuen Generalsekretärs, der sich als nachdenklicher und abwägender Geist profilierte („Wenn es stimmt, daß zwischen der Politik und den Bürgern der Faden gerissen ist, dann brauchen wir eine neue Offensive des Verstehens“). Fraktionschef Schäuble wartete mit Altbekanntem zu Asyl, innerer Einheit, Europa auf. Selbst die Ankündigung, noch vor dem 1. Juli käme das gemeinsame Pflegekonzept der Koalition, überraschte nicht mehr. Geißler, Schäuble und Norbert Blüm verhandeln mit den Liberalen über eine Umlageversicherung, deren Kosten anderswo eingespart werden müssen.
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