: Abgespulte Zeit
Film und Tod — eine Tagung in Arnoldshain ■ Von Mariam Niroumand
Ganze Kino-Genres leben vom Sterben. Gibt es aber einen Umgang mit dem Tod, der spezifisch ist für den Film, der ihn von allem unterscheidet, was ein Gemälde, ein Requiem, ein verstummender Roman oder eine Fotografie kann?
Die Evangelische Akademie in Arnoldshain bei Frankfurt hatte an diesem Wochenende gut neunzig Teilnehmer — darunter Germanisten, Filmkritiker, Chemiker, Kauffrauen, Soziologen und Theologen — auf ihrem Berg versammelt, um dieser Frage nachzuspüren. Schnell stellte sich heraus, daß wohl kaum eine Thema der kirchlichen Filmarbeit so auf den Leib geschrieben ist wie das Verhältnis von Film und Tod. In ihrem Einführungsvortrag erinnerte die Frankfurter Kulturreferentin Christiane von Wahlert daran, daß die Entwicklung der Fotografie mit der Säkularisierung, der „Krise des Todes“ Hand in Hand ging, und daß man, wie Roland Barthes es in Die helle Kammer auch fordert, über die anthropologische Beziehung zwischen dem Tod und dem neuen Bild reden müsse. Von Wahlert, die sich vor allem auf die Fotografie bezog, las die Hochkonjunktur der Bilder vom Tod als die Sehnsucht, sich als Überlebenden im Sinne Canettis zuer-leben.
Die Filmwissenschaftler in der evangelischen Bildungsarbeit — von denen unter anderem die Zeitschrift 'epd Film‘ herausgegeben wird, knüpfen an eine lange Tradition kirchlicher Filmkritik an, die schon vor dem Ersten Weltkrieg, als alles noch über seine technische Novität staunte, das neue Medium als Instrument der Volkspädagogik verstanden und nutzten. Nach 1945 allerdings, ernüchtert von den Verstrickungen zwischen Kirche, Nationalismus und dessen propagandistischem Gebrauch des Films, diente die Gründung der FSK (Freiwillige Selbstkontrolle) dazu, die Unabhängigkeit der Filmkritik von der Institution Kirche zu sichern und gleichzeitig die Diskussion um die gesellschaftliche Relevanz des Mediums zu institutionalisieren.
Der Kirche als Cineast entgegentreten und den Cineasten als Anthropologe — so etwa läßt sich der Geist der Arnoldshainer Fimgespräche beschreiben. Wenn die Rechnung aufgeht, treffen da Kurosawa-Experten auf Exegeten des Matthäus-Evangeliums; Filmemacher auf Filmkritiker, Isarelis auf Deutsche oder Rentner auf Studenten, und werden beim Betrachten und Analysieren von Filmen aus ihren Branchen und Loyalitäten gelockt.
Die Rechnung geht nicht immer ganz auf. Karsten Witte, Filmpublizist aus Berlin, präsentierte den verblüfften Teilnehmern im Anschluß an Akira Kurosawas Einmal wirklich leben (Ikiru, 1952) und Peter GreenawaysDer Bauch des Architekten (Belly of an Architect, 1986) ein schillerndes, mit Zitaten gespicktes Potpourri aus Filmtheorie-Importen der siebziger Jahre, philosophischen Bonmots und Filmausschnitten, dessen Hauptverdienst darin bestand, zu zeigen, daß der Tod selbst nicht gezeigt, sondern metonymisch evoziert wird, und daß er dem Medium Film eigentümlich inhärent ist.
Ikuru zum Beispiel erzählt die Geschichte eines traurigen japanischen Bürokraten, der vor dem bedeutungslosen Versinken in der Papierflut erfährt, daß er mit einem Magenkrebs dem Tod geweiht ist. Nachdem er sich zunächst panisch ins maschinengetriebene Nachtleben gestürzt und einer jugendlich-naiven Mitarbeiterin hilflos wie Aschenbach in Der Tod in Venedig nachgelaufen ist, beschließt er, vor dem Tod noch die Sümpfe in seinem Bezirk trockenzulegen und dort einen Kinderspielplatz zu errichten.
Theweleit hätte seine helle Freude an den bösen und den guten Fluten, die durch diesen Film ziehen: die tötenden Papierfluten, die Kloake, die die Stadt zu ersticken droht, die Vergnügungsmassen in den Sündenhöhlen, die den Alten fast verschlingen; und dann auf der anderen Seite die Tränen der Frauen, der Zug der Mütter, die Gesichtchen der Kinder als die Ströme, die Leben erhalten.
Aus diesen und anderen Bildern wird der Tod evoziert — den aus dem russischen Formalismus stammende Begriff der Metonymie, nach dem ein Wort durch einen Kontext und nicht durch eine Metapher erläutert wird, benutzte Witte, um zu zeigen, daß sich der Tod — wie die Geburt — nicht vorstellen läßt. Die römisch- sakrale Architektur in Greenaways Belly, seine Spiegelungen, Reprisen und Kreisbewegungen, sind für Witte Schutzwälle gegen die Todesangst und die Vergänglichkeit wie der Film selbst, der einen Moment, ein Ding zum Artefakt macht. Dem Apparat Film — also dem gesamten Dispositiv aus Filmindustrie, Mechanik, Arrangement im Kinosaal und Blickchoreographie zwischen Akteuren auf der Leinwand, Kamerablick und Zuschauer — unterstellte er eine Todessehnsucht, deren Natur leider im Dunkeln blieb, zumal Nachfragen aus dem zum Teil eingeschüchterten Publikum mit erstaunlicher Nonchalance in den Bereich des Profanen verwiesen wurden.
Die an Sartre und Lacan angelehnte „Blicktheorie“ der siebziger Jahre, nach der das Kino Erfahrungen reproduziert, die noch vor der Ich-Bildung und der Sprache liegen, wurde von Witte zu einem „fiktionalen Vertrag“ zwischen Film und Zuschauer zurechtgestutzt, der darin bestehe, daß der Zuschauer in seiner Schaulust nicht durch direkte Blicke in die Kamera gestört werden darf. Was das mit dem Tod zu tun hat? „Kinder, Amateure und Sterbende“, die nichts von diesem Vertrag wüßten, so Witte, „blicken zurück.“
Der richtige Arnoldshainer Geist, das kecke Ins-Freie-Denken, setzte sich erst durch, als der Literaturwissenschaftler Gert Mattenklott in einem tänzelnden Ritt durch die Literaturgeschichte und die Medienlandschaft entdeckte, daß die Moderne schon immer zwei Pole im Umgang mit dem Tode gekannt habe: Die Todesangst, die aufgetreten sei, nachdem die krchliche Sinnstiftung des Todes abgedankt habe, sei von der Aufklärung mit der völligen Austreibung des Todes aus dem Leben beantwortet worden. Dem gegenüber stehe der Versuch des Existentialismus — Mattenklott zitierte Rilkes Malte Laurids Brigge — den Tod ins Leben hineinzunehmen, das Leben vom Tod aus zu bestimmen: So habe der Held aus Kurosawas Ikuru seinem Leben im Angesicht des Todes durch die soziale Tat des Kinderspielplatz-Bauens einen Sinn zu geben versucht. Sartre wiederum hat diese Position heftig attackiert: sie vermenschliche und individualisiere den Tod, anstatt ihn als das ganz Andere des menschlichen Daseins zu betrachten, das, was wir nicht begreifen können, was von außen kommt wie die Geburt, das Absurde.
Der Film, so Mattenklott, sei in seiner bloßen Form schon eine Verklärung des Fortlebens. Er „hat die Form des Zeugnisses, noch bevor er an einem beliebigen Stoff definiert, was denn bezeugt werden soll“. „Film ist eine Kunst der Zeit.“ Andy Warhols Abfilmen von Echtzeit, seine achtstündigen, unbemannten Aufnahmen des Empire State Buildings oder eines Schlafenden, sind hierfür ein Beispiel. Aber noch während der Film „Zeitkonserve“ ist, ist er auch Zeugnis der Furie des Verschwindens: „Er bezeugt, daß etwas war, wo nichts hätte sein können.“
Unter freudigem Schmunzeln der Anwesenden entwickelte Mattenklott dann eine dritte Position zwischen Exorzismus und Verinnerlichung des Todes, also zwischen völliger Alterität und völliger Identität, nämlich die postmoderne Unduldsamkeit gegen den Tod, gegen das schlechthin Fremde, die ihre Fühler nach Ähnlichkeit ausstreckt.
Peter Greenaways Zitatenspiele und Wiederholungen zum Beispiel, die unendlichen Kopien, die der an Magenkrebs sterbende Architekt Cracklite von Bauchbildern von Dürer oder Hadrian anfertigt, imitieren zwar die „gleichmachende Arbeit des Todes“, aber sie strecken ihr auch die Zunge heraus: Der Kopierer profanisiert das Erhabene, es schrumpft auf die Größe der Postkarten zusammen, die Cracklite mitgehen läßt. Das Zitat füllt den leeren Himmel, den die Religion zurückgelassen hat.
Film als Revolte gegen den Tod gleicht — so die Filmwissenschaftlerin Gertrud Koch in einem Ausatz — der Schrift. Beide entstanden nach dem Bilderverbot, das aus Angst vor der tötenden Kraft des identischen Bildes erlassen wurde. Wo diese nicht-identischen, nicht abbildenden Bilder herkommen, das war eines der Rätsel, mit dem die Tagung ausklang.
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