: "Wir werden Eure Fehler nicht wiederholen"
■ betr.: "Soll man die Kleinen hängen?" (Ja. Die Mitläufer sind nicht die Verführten des Systems, sie sind seine Grundlage) von Henry
betr.: „Soll man die Kleinen hängen?“ (Ja. Die Mitläufer sind nicht die Verführten des Systems, sie sind seine Grundlage) von Henryk M.Broder, taz vom 10.6.92
Soll man die Broders hängen? Nein. Wir sollten niemanden hängen.
Kaum war der Golfkrieg begonnen und die ersten Bilder von Toten auf unseren Bildschirmen, da fragten wir uns, wie man/frau mit den Dienern und Helfern der mordlüstigen Meuten, den Enzensbergers, Gremlizas und Broders, umgehen solle. Niemand jedoch kam auf die Idee, sie in die Verbannung zum Ernteeinsatz oder zur Umerziehung zu schicken (diese Denkweise wurde uns zwar von den Hagers und Mielkes angetragen, sie hat uns aber offenbar nicht überzeugt).
Auch konnten wir den Unterschied zwischen Schreibtisch- und Schreibmaschinentätern nicht als einen wesentlichen erkennen. Da zur Grundlage eines Krieges neben Gauleitern und Blockwarten immer Broders gehören, die zu Opfern aufrufen, konnten alle Menschen, die damals „freiwillig“ in den Tod „mitliefen“, die Gewißheit haben, daß die Bushs und Broders ihren Tod für sinnvoll erachteten und sie zu ihrem Massenselbstmord ermunterten, ohne daß man/frau sie hätte später zur Verantwortung ziehen können.
Es scheint also mehr zum Fundament einer Menschenabschlachtung zu gehören, als die Basis, diejenigen, die schießen und sich erschießen lassen. Vielleicht der Architekt? Oder der jubelnde Journalist? Oder eine (teilweise) jubelnde Zeitung?
Zum Glück ist die taz ja noch keine One-WoMan-Show, ganz gleich wie der/die ChefredakteurIn heißt. Wie bei der Pyramidennummer im Zirkus kommt es auch auf die LeserInnen(briefe) und MitarbeiterInnen an. Die müssen ja nicht selbstherrlich über Dinge reden, mit denen sie kaum etwas verbindet und von denen sie kaum etwas wissen (wie zum Beispiel das Gemetzel im Irak und die Lebensumstände in der DDR bei Broder). Die/der taz-LeserIn im Osten kann entspannt zu seinem/ihrem Adorno greifen und sich über die Hintergründe der beispiellosen Aggressivität und patriarchalischen Kraftmeierei der Broders informieren und ist ihnen nicht böse gesonnen. Broders und Gremlizas, Bushs und Enzensbergers! Habt keine Angst! Wir werden Eure Fehler nicht wiederholen. C.H.Christmann, Ostberlin
Broder hat recht, die Mitläufer des Systems sind seine Grundlage. Daß diese These richtig ist, beweist das Ende des DDR-Sozialismus. Solange sich nur einige wenige Leute gegen die Herrschenden und ihre Meinung stellten, war eine Veränderung nicht möglich. Anders, als die Basis nicht mehr mitlief, sondern weglief, ein Teil in den Westen, ein Teil auf die Straße. Das Gebilde bracht in sich zusammen. Da sind wir wieder bei der Macht der sogenannten kleinen Leute! [...]
Ob sich die Großen nun aber leichter resozialisieren lassen, als die Masse der Kleinen, wie Broder schreibt, ist allerdings eine andere Frage. Ab und an wird eben doch der Willibald Böck zum Gärtner gemacht. Und das, was Herr Schalck- Golodkowski wiederfährt, ist wohl weniger eine Resozialisierung als ein gemeinsamer Klüngel zum Machterhalt. Doch Politiker zu resozialisieren erscheint sowieso aussichtslos! Versuchen wir es also lieber mit der „Masse der Kleinen“. Matthias Rudolph, Leipzig
Trotzki hatte recht: „Die Basis ist die Grundlage des Fundaments.“ Wenn aber Henryk M.Broder daraus den Satz ableitet: „Die Mitläufer sind nicht die Verführten des Systems, sie sind seine Grundlage“, so hat er unrecht. Denn eine halbrichtige Aussage ist auch falsch. Die Mitläufer sind nämlich sehr wohl die Verführten des Systems und seine Grundlage.
Was für ein erschreckendes, zutiefst emotional geprägtes Feindbild, was für ein Haß auf die berühmte schweigende Masse, was für eine Borniertheit und Blindheit gegenüber der Intelligenzija und den Führungskräften! „...weil sie ihre Schuld weder einsehen noch annehmen, weil sie sich auf andere rausreden, weil sie sich nie die Hände schmutzig machen,...“ — diese Sätze treffen voll und ganz zu auf: Erich Honecker, Alexander Schalck-Golodkowski, Markus Wolf; auf Franz-Josef Strauße, Otto Graf Lambsdorff, Gerhard Stoltenberg, und wie sie alle heißen.
Und ihr Fähnchen nach dem Wind hängen können ebensogut Heinrich Fink und Wernher von Braun: Mauerschützen, Stasi-IMs, StaatsbürgerkundlerInnen. Moralische Integrität nur von den Kleinen zu erwarten, um sie ihnen sogleich abzusprechen, und zwar pauschal, weil sie die Dummen sind, ist dummdreist, elitär und zutiefst amoralisch.
Möge es solchen Leuten und ihrer Seilschaft von gestern, heute, morgen und übermorgen wenigstens überübermorgen an den Kragen gehen! Elisabeth Eßer, Lübeck
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