Der Zufall gibt Gas

Paul Auster sucht den endgültigen Highway  ■ Von Annette Brockhoff

Was macht ein frustrierter Durchschnittsamerikaner in den besten Jahren mit einer überraschenden Hinterlassenschaft von 200.000 Dollar? — Jim Nashe, Feuerwehrmann in Boston und Held von Paul Austers neuem Roman Die Musik des Zufalls, kauft sich einen nagelneuen Saab, nimmt die nächste Highway-Auffahrt und läßt sich durch den amerikanischen Westen treiben. Was als Urlaubstrip beginnt, wird immer mehr zur Droge, eine Freiheit, die zur Sucht wird: „Er wollte diese Einsamkeit wiederhaben, dieses nächtelange Rasen durch die Leere, die Vibration der Straße an seiner Haut.“ Überzeugt, seinem verkorksten Leben — eine Verlustliste, die vom verschwundenen Vater bis zur verlorenen Tochter reicht — eine anständige Wende nicht mehr geben zu können, gibt Nashe der namenlosen Unruhe schließlich nach, steigt aus und um aufs Auto. Mit etlichen Klassiker- Kassetten im Gepäck folgt er der Musik der Straße und des Zufalls.

Daß es beim aleatorischen Road movie nicht bleibt, steht zu vermuten, denn schließlich kennen wir Paul Austers literarische Zufallsoperationen als existentielle Trips, in deren Verlauf das Zufällige sich zu quasi- metaphorischen Mustern, zu fiktionalen Superzeichen fügt und ins Unausweichliche umschlägt. Chance, Zufall, Glück, Bestimmung: im Gegensatz zur deutschen Übersetzung, in der nur der Zufall eine Chance hat, bewahrt der Originaltitel The Music of Chance als „glücklichere Fügung“ die schicksalhaften Brechungen des Kontingenten, die „ungelösten Harmonien“ des Lebens, denen Auster in seinen Romanen immer wieder auf der Spur ist.

War bereits die New-York-Trilogie ein verwirrender literarischer Variationensatz zum Thema Zufall und Bestimmung, Orientierungsverlust und Paranoia, fielen in Mond über Manhattan die Extreme des absoluten Zufalls und der absoluten Determination zusammen, kontrapunktiert Auster Die Musik des Zufalls mit einer thematischen Figur, die wie keine andere die Wechselfälle der Existenz zu symbolisieren scheint: dem Glücksspiel. Als der schrumpfende Geldbeutel den Nomaden der Highways zu beunruhigen beginnt, Pläne, wieder seßhaft zu werden, jedoch scheitern, trifft Nashe Jack „Jackpot“ Pozzi, einen jugendlichen Profi-Zocker. Nomen est omen: Er setzt sein weiteres Leben auf eine Karte, auf die Pokerkünste des talentierten Glücksritters aus der „internationalen Bruderschaft der streunenden Hunde“.

The Music of Chance: Was der Zufall zusammengeführt hat, soll zur Chance für eine glückliche Wendung in beider Schicksal werden. Doch die Gelegenheit, zwei schlecht spielende Millionäre aufs Kreuz zu legen, entpuppt sich als undurchsichtiges Spiel mit doppeltem Boden, die Chance als Schicksalsschlag: Nicht von ungefähr läutet bereits die Türglocke der scheinbar harmlosen Herren namens Flower und Stone — Ähnlichkeiten mit Laurel und Hardy sowie bekannten Beckett-Paaren sind beabsichtigt — den Anfang von Beethovens Fünfter. Die ominösen Hobbys der beiden Exzentriker, die ihren Reichtum zudem einer magischen Kombination von Primzahlen verdanken, lassen weitere Vorahnungen eines drohenden Verhängnisses aufkommen: Flowers gigantische Kuriositätensammlung und Stones bizarr totalitäre, Vergangenheit und Zukunft gleichermaßen umfassende Modellstadt der Welt, in der Lebensläufe akribisch nachgestellt und doch wie vorgezeichnet scheinen, werfen ihre Schatten auf ein Spiel voraus, in dem die Karten von einer höheren Macht gezinkt zu sein scheinen und das nach einer vorübergehenden Glückssträhne schließlich zum finanziellen Desaster für beide wird. Für Pozzi, der an eine verborgene Absicht hinter den Geschehnissen der Welt glaubt, und sei es Gott, Glück oder Harmonie, trifft Nashe die Schuld an dem unerwarteten Debakel: Magisch angezogen von Stones utopischer Zwingburg, aus der er hämisch die Miniatur-Doubles der beiden Lotto-Könige entwendet, habe er die Musik, den Rhythmus des Glücks unterbrochen, in dem Pozzi zuvor dem sicheren Sieg entgegenspielte.

Wie dem auch sei, ob Zufall oder Absicht: Die Chance ist verspielt, und nach dem Glück steht nun das Leben selbst auf dem Spiel. Zur Ablösung ihrer Spielschulden lassen sich Pozzi und Nashe auf ein (größen)wahnsinniges Mauerbau-Projekt ein, das zunehmend der Zwangsarbeit zweier Sträflinge in einer Strafkolonie gleicht. Entsprechend scheinen die Requisiten für diese „Lebensaufgabe“ samt seinen Wächtern, Türhütern und Gehilfen aus einer Kafka-Parabel in den amerikanischen Westen importiert worden zu sein. Auch die Schloßherren Flower und Stone, die vom Vertragsabschluß an unsichtbar bleiben, können ihre Verwandtschaft mit den allwissenden Herrschaftsinstanzen des Kafkaschen Universums kaum verleugnen. Und manchmal hat man den Eindruck, das Verfahren, in das der „Verhaftete“ sich wie aus Angst vor einer unbekannten Schuld scheinbar mehr als nötig verstrickt, ginge langsam ins „Urteil“ über. Denn während Pozzi seinen Instinkten entsprechend die Situation für absurd hält, sieht Nashe sich insgeheim in der Rolle eines postmodernen Sisyphos, der im sklavischen Steineschichten immer wieder Angebote von Selbstfindung und Bewährung wittert.

Doch die Fahndung nach dem persönlichen Gesetz, dessen Fluchtpunkt wie bei Kafka der Tod ist, erweist sich als Labyrinth ohne Ausgang, die Sinnsuche als Nullsummenspiel: „Er war wieder auf Null, und jetzt war all das vorbei. Denn auch die kleinste Null war ein großes leeres Loch, ein Kreis, der die ganze Welt in sich fassen konnte.“

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„Nichts ist, was es scheint. Alles ist doppeldeutig“, urteilt Paul Auster über die Wechselfälle der Existenz. „Verpaßte Anschlüsse, schlechtes Timing, Tappen im Dunkeln“, heißt es in Mond über Manhattan. Es ist eine merkwürdige Art des Schattenboxens, die Austers vaterlose Existenzen betreiben, die allemal Hungerkünstler sind, auch im existentiellen Sinn. Ihre Fahrten sind ödipale Irrfahrten und ihre Spiele Endspiele, trügerische Fiktionen in den Räumen eines sinnverlassenen Alltags. Während jedoch Fogg in Mond über Manhattan auf der Suche nach dem Code seiner Existenz ein Deus ex machina zu Hilfe eilt, endet Nashes Odyssee in einem hermetisch verriegelten Niemandsland, in dem die Gesetze von Ursache und Wirkung aufgehoben scheinen und Verantwortlichkeit nicht mehr lokalisierbar ist, weder für den Helden, auf dessen Optik die Perspektive rigoros beschränkt ist, noch für den Leser, der gezwungen ist, im Konjunktiv seiner Spekulationen mitzuschwimmen.

Es macht den beängstigenden Reiz der Bücher Austers aus, daß es keine Wirklichkeit jenseits der Wahrnehmung seiner Helden gibt, keinen Olymp, von dem aus die Handlung als Träger übergreifender Ordnung zu entschlüsseln wäre. Sie ist für alle Beteiligten, den Protagonisten und den Leser, möglicherweise auch für den Autor, ein Spiel mit verdeckten Karten, eine Poker- Partie, bei der die richtige Einschätzung der eigenen wie der fremden Situation über Gewinne und Verluste entscheidet. Doch die Welt, in der Austers Figuren operieren, ist keine Welt, in der es jemand mit gescheiten Antizipationen zu etwas bringen könnte. Es ist eine vieldeutige Welt, anarchisch und doch seltsam ferngesteuert, ein Spiegelkabinett des Potentiellen mit dem Zug des universal Verdächtigen. Das Kontingente scheint einer absurden Logik zu folgen, der freie Wille der verlängerte Arm des Schicksals zu sein. Bis zum Ende bleibt unklar, ob es die Zwangsmomente der eigenen Befangenheit sind, die in die Katastrophe führen, die „Gewalt einer rätselhaften, überwältigenden Macht“ oder nichts als die gekonnten Schachzüge in einem „ausgeklügelten Betrugsmanöver“.

Doch es ist nicht nur die Dialektik von Wollen und Müssen, von Freiheit und Notwendigkeit, das Mißverhältnis zwischen den Absichten und dem, was die Figuren wirklich erwartet, was Austers Romanwelten kennzeichnet. Im blutigen Regime des Zwillingsgestirns Flower und Stone, die Pozzi nach einem Fluchtversuch fast totschlagen lassen, scheint eine Gesellschaft auf, deren parasitäre Machtentfaltung totalitären Charakter annimmt und jede Möglichkeit eines freien Daseinsentwurfs annulliert. Die Mauer, „Symphonie aus wiederbelebten Steinen“ eines alten Cromwell-Schlosses, erfüllt dabei nicht nur ein skurriles Klischee, sondern wird als „Barriere gegen die Zeit“ zum Symbol verewigter Herrschaft.

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„Es genügt, daß die Pfeile genau in die Wunden passen, die sie geschlagen haben“, heißt es in Kafkas Tagebuch. Doch nicht nur der letztlich unangemessene Vergleich mit den genialen Fügungen der hermetischen Sprachwelt Kafkas, über den Auster in Ground Work schrieb, läßt neben aller Faszination immer wieder Zweifel an der Substanz des Romans aufkommen, eine merkwürdige Verunsicherung darüber, ob Die Musik des Zufalls nicht im Kopf der Rezensentin mehr Turbulenzen auslöst, als sie eigentlich enthält. Und auf der Suche nach den diversen „symbolischen Schwangerschaften“ fühlt man sich manchmal wie in Flowers Trödelladen zwischen Enrico Fermis Bleistift und Walter Raleighs Pfeife, eingeklemmt zwischen Versatzstücken aus Road movie, Zocker-Film, Kafka, Beckett und Camus, „geläutert“ durch Dashiel Hammet und Walt Disney: „american loneliness“ im Steinbruch der europäischen Moderne.

Vielleicht liegt es daran, daß die Aporien des Lebens dem Roman nicht auf den Leib geschrieben sind wie den Texten Kafkas und Becketts, wie seiner New York Trilogie oder aber wie bei Thomas Pynchon: „Die Lösung des Identitätsproblems heißt: verlorengehen“, sagt Slothrop, Protagonist am Scheideweg in den Enden der Parabel, und verwandelt sich in ein Straßenkreuz: „...nach einem schweren Regen, an den er sich nicht erinnert, sieht Slothrop einen sehr dicken Regenbogen hier, einen stämmigen Regenbogen-Schwanz, der aus dem Schamhaar der Wolken in die Erde dringt, die grüne, nasse, gefurchte Erde, und er steht da und weint, nichts mehr in seinem Kopf, und er fühlt sich einfach natürlich...“ Auch Jim Nashe geht am Ende verloren. Nach den Gesetzen der Schwerkraft, aber ohne Regenbogen: „On the road again“ wird er Opfer einer kleinen Unaufmerksamkeit. Er fügt sich dem unausweichlichen Zufall und gibt Gas. Nashe wird eins mit dem Felsen, an den ihn der Autor geschmiedet hat. Schicksal. Und ein dünnes Ende der Parabel. Bleibt die Frage: Dürfen wir uns Nashe als glücklichen Menschen vorstellen?

Paul Auster: Die Musik des Zufalls. Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz, Rowohlt Verlag, 256Seiten, geb., 38DM.