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Gary Linekers trauriger Abschied

Durch eine überragende zweite Halbzeit besiegt Schweden die Engländer mit 2:1 und wird souverän Sieger der EM-GruppeA/ England muß heim, was die Fans nicht ganz verkraften  ■ Aus Stockholm Matti Lieske

„EM-Gold, EM-Gold, EM-Gold“, singen die freudetrunkenen Schweden im vor Begeisterung vibrierenden Rasunda-Stadion von Solna und später in der Stockholmer City, pikanterweise zu jener Melodie, mit der die englischen Fans ihr Team anzustacheln pflegen: „Here we go, here we go, here we go.“ Diese singen nicht mehr, statt dessen lassen etliche ihrer Enttäuschung über das Ausscheiden freien Lauf, fallen über schwedische Anhänger her oder liefern sich Scharmützel mit der Polizei. Die meisten der 4.000 englischen Fans reisten zwar bereits in der Nacht ab, aber zehn Verletzte und 64 Verhaftete blieben vorerst in Schweden.

Dabei hatte das letzte Spiel der GruppeA zwischen Schweden und England ganz anders als erwartet begonnen. „All we are singing is, give us a goal“, hatten die von zwei 0:0-Spielen frustrierten Briten-Anhänger da noch intoniert, und ihr Wunsch wurde ihnen prompt erfüllt. Gary Lineker, in seinem 80. und — wie sich herausstellen sollte — letztem Länderspiel, zog in der vierten Minute auf dem rechten Flügel davon, flankte nach innen, und David Platt, nach seinem Wechsel von Bari zu Juventus Turin zu den teuersten Spielern der Welt zählend, füßelte den Ball aus der Luft ins Tor. Blankes Entsetzen auf den Rängen, nur der englische Block geriet über das seltene Ereignis eines Torerfolgs in wonnige Ekstase.

England spielte wesentlich besser als in den bisherigen Spielen, gewann die meisten Zweikämpfe, beherrschte das Mittelfeld und hatte weitere gute Chancen durch Platt, Sinton und vor allem Daley. Die Schweden waren zu zaghaft, lediglich Jonas Thern konnte sich ab und zu durchsetzen, und zu allem Unglück verwehrte ihnen der portugiesische Schiedsrichter Jose Rosa dos Santos kurz vor der Halbzeit auch noch einen klaren Elfmeter, als Batty den einschußbereiten Brolin von den Beinen holte.

Nach der Pause war alles anders. Coach Tommy Svensson hatte den leicht verletzten, wirkungslosen Anders Limpar von Arsenal London rausgenommen, den dynamischen Klas Ingesson auf den bis dahin lahmenden linken Flügel beordert und rechts den Ex-Bayern Jonny Ekström postiert, um „mehr Punch im Angriff“ zu bekommen. „Ein genialer Zug“, wie Limpar später selbst zugab. Plötzlich gehörte das Mittelfeld den Schweden, die lupenreines Kick and Rush spielten, den Ball lang nach vorn jagten und blitzschnell nachrückten. „Wir haben den englischen Fußball besser gespielt als die Engländer“, freute sich Limpar, und auch Briten-Coach Graham Taylor wunderte sich: „Sie haben uns mit unserern eigenen Waffen geschlagen.“

Der Lohn ließ nicht lange auf sich warten. In der 52. Minute brachte Stefan Schwarz eine scharfe Ecke auf den Elfmeterpunkt, wie schon gegen Frankreich schlich sich Jan Eriksson in den Strafraum und köpfte den Ball zwischen Torwart Chris Woods und dem auf der Linie postierten David Batty ins Tor. Das Stadion raste, und die Gastgeber begannen Traumfußball zu spielen. „Die beste Halbzeit, die ich je von einem schwedischen Team gesehen habe“, schwärmte Svensson, und sie wurde in der 83. Minute gekrönt durch ein phänomenales Tor von Tomas Brolin, der den Ball nach doppeltem Doppelpaß mit Ingesson und Dahlin in den Torwinkel schmetterte.

Nach dem überzeugenden 2:1- Sieg in einem hochklassigen Spiel glauben langsam auch die Spieler daran, daß sie diese EM gewinnen können. „Wir können jeden schlagen“, ist Limpar überzeugt. Beim ersten Spiel seien alle höllisch nervös gewesen, „weil wir nicht wußten, wie gut wir sind“, und waren über den einen Punkt gegen Frankreich äußerst glücklich. „Jetzt ärgern wir uns darüber.“ Frankreich war für Limpar der absolute Favorit, „ich betete nur, daß wir Gruppenzweiter hinter ihnen werden.“ An ihrem Ausscheiden seien sie jedoch ebenso wie die Engländer selbst schuld. „Bei einem solchen Turnier kannst du nicht ängstlich abwarten, auf Unentschieden spielen, um dann im letzten Spiel alles klar zu machen. Wenn es dann drauf ankommt, versagst du.“

Die Engländer schlichen gesenkten Hauptes davon, Gary Lineker, der künftig in Japan kickt, wurde in der 62. Minute ausgewechselt, ein schmählicher Abschied des Torjägers, der 48 Treffer für England erzielt hat — eines weniger als Rekordhalter Bobby Charlton. „Das war bitter für ihn“, räumte Taylor ein, „aber wir mußten versuchen, doch noch ins Halbfinale zu kommen, und ich brauchte einen Mann, der vorn den Ball halten kann. Das ist nicht Linekers Stärke.“ „Unverständlich und enttäuschend“, fand indes nicht nur Lineker die Auswechslung.

Taylor wird sich wegen seiner umstrittenen Spielerauswahl in der Heimat auf ein Spießrutenlaufen gefaßt machen müssen. Vor allem, daß er Englands Torschützenkönig Ian Wright, der 34 Mal für Arsenal traf, zu Hause ließ, wird ihm angesichts der Tormisere übel angekreidet werden. Anders Limpar sprach es deutlich aus: „Sie haben ein besseres Team als dieses in England zurückgelassen.“

England: Woods (Sheffield Wednesdy) - Batty (Leeds United), Keown (FC Everton), Walker (Sampdoria Genua), Pearce (Nottingham Forest) - Daley (Aston Villa), Webb (Manchester United), Palmer (Sheffield Wednesday), Sinton (Queens Park Rangers - 78. Merson/Arsenal London) - Platt (AS Bari), Lineker (Tottenham Hotspur - 62. Smith/Arsenal London)

Tore: 0:1 Platt (4.), 1:1 Eriksson (52.), 2:1 Brolin (83.)

Zuschauer: 30.126 (ausverkauft)

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