Feind Nummer eins

Die Beziehungen Warschaus zu Vilnius sind schlecht/ Schuld ist der Steit um die polnische Minderheit in Litauen/ Litauer piesacken zuweilen die Polen und werfen ihnen vor, mit den Sowjets paktiert zu haben  ■ VON KLAUS BACHMANN

Die polnisch-litauischen Beziehungen befinden sich auf einem Tiefpunkt. Als „Bürger zweiter Klasse“ beschrieb die Warschauer Tageszeitung 'Nowy Swiat‘ den Status der polnischen Minderheit in Litauen — um dann nachzuschieben, Litauen behandle die Polen als „öffentlichen Feind Nummer eins“. Inzwischen wurde in Warschau sogar ein „Komitee zur Verteidigung der Polen in Litauen“ gegründet. Meinungsumfragen zufolge verlangen 64 Prozent der Polen von ihrer Regierung „entschiedenen Protest“ in Vilnius. Ende März zog das polnische Außenministerum nach: „Die Abkühlung der polnisch-litauischen Beziehungen ist eine Tatsache“, weil Litauen die 260.000 in Litauen lebenden Polen diskriminiere.

Lang ist die Liste der Vorwürfe. Die Polen würden bei der Privatisierung benachteiligt; man versuche, ihr Gebiet durch die Ansiedlung litauischer Kolonisten ethnisch auszudünnen; man habe sie ihrer demokratischen Vertretungen beraubt. Litauens Regierung löste im vorigen September die polnische Gebietsselbstverwaltung auf und setzte einen Staatskommissar ein. Litauen rechtfertigte diesen Schritt unter Hinweis auf angebliche „staatsfeindliche Beschlüsse“ dieser polnischen Ortsregierung.

Zentrum des Konflikts zwischen Litauern und Polen ist das Gebiet um Salcininkai südlich von Vilnius an der weißrussischen Grenze. Dort leben 80 Prozent Polen, gerade mal neun Prozent Litauer; der Rest sind Weißrussen und Russen.

Jozef Rybak vom Vorstand des „Bundes der Polen in Litauen“ in Salcininkai sieht indes keine Probleme im Zusammenleben zwischen Polen und Litauern in seinem Dorf: „Privat ist alles in Ordnung, nur wenn wir anfangen, über Politik und Geschichte zu reden, gibt's Streit.“ Auch Bürgermeister Zdzislaw Pawelicz zeigt sich zufrieden, kritisiert jedoch die Auflösung der Selbstverwaltungen: „Ich habe keine Probleme, mit dem Staatskommissar zusammenzuarbeiten“, räumt er ein, „aber es geht ums Prinzip, und das ist undemokratisch.“

Arunas Eigirdas, so heißt der Kommissar, ist Soziologiedozent in Vilnius, spricht kein polnisch, kennt allerdings die Gegend aus Forschungsprojekten. Daß er auf dem Stuhl des demokratisch gewählten Regionsrates sitzt, erklärt er mit den verfassungswidrigen Beschlüssen des Rats: „Zuerst haben sie den Beschluß gefaßt, daß hier nicht die Verfassung Litauens, sondern die der UdSSR gelten solle. Dann erklärten sie Salcininkai zur ,nationalen polnischen Region‘ mit eigener Flagge, die der polnischen äußerst ähnlich sah. Schließlich erließen sie sogar einen Ukas über eine eigene Staatsbürgerschaft.“

Als in Moskau geputscht wurde, hätten einige polnische KP-Funktionäre die rote Flagge vors Haus gehängt und in Vilnius eine Versammlung zur Unterstützung der Putschisten organisiert. „Wir mußten die Räte auflösen, sonst wäre es hier zu einer Tragödie wie in Moldawien gekommen“, sagt Eigirdas. Eine Einheit der Truppen des Innenministeriums habe sich während des Putsches zum Schutzherren der Polen aufschwingen wollen. „Das KGB hat sich immer bemüht“, behauptet der Staatskommissar, „nationale Minderheiten gegen abtrünnige Republiken zu manipulieren.“

Funktionäre des „Bundes der Polen in Litauen“ bestreiten Eigirdas' Aufzählung ebensowenig wie Mitglieder der zehnköpfigen Polenfraktion im Parlament von Vilnius. Czeslaw Okinczyc, der von den radikalen Polenfunktionären in Vilnius und Umgebung zum Verräter abgestempelt wird, bestätigt als Mitglied des KGB-Untersuchungsausschusses sogar, daß man in den Geheimakten drei Decknamen von Agenten gefunden habe, die im ersten Vorstand des „Bundes der Polen“ saßen. Zehn weitere hätten zudem mit dem KGB sympathisiert.

Okinczyc, der in der Altstadt von Vilnius mit den Stimmen von Polen, Russen und Litauern gewählt wurde, befindet sich inzwischen in der Opposition zur Führung des Bundes und zu seinem Parlamentsklub. „Wir haben selbst zu viele Fehler gemacht“, sagt er, „und dadurch den Litauern den Vorwand geliefert, die Räte aufzulösen.“ Für einen dieser Fehler halten manche Polen auch die Autonomieforderung des „Bundes der Polen“. Ein autonomes Gebiet der polnischen Minderheit um die Hauptstadt Vilnius müsse in Litauen Alpträume auslösen. „Man stelle sich die polnische Reaktion auf einen deutschen Ring um Warschau vor“, gab Polens ehemaliger Innenminister Kozlowski zu bedenken.

Erst im Herbst will das Parlament in Vilnius prüfen, ob die Polen wieder eigene Verwaltungen einrichten dürfen. Staatskommissar Eigirdas sagt: „Wenn wir jetzt Wahlen ausschreiben würden, hätten wir das gleiche Ergebnis wie zuvor.“ Nach wie vor sei die Macht der Kolchosfunktionäre ungebrochen, die den Belegschaften die Wahlergebnisse einfach diktieren würden. Erst müsse man die Kolchosen aufteilen und privatisieren und die Macht der sowjetischen Nomenklatura brechen, dann könne man neu wählen.

Artur Plokszto, Redakteur von 'Nasza Gazeta‘, dem Organ des „Bundes der Polen“, sieht das etwas anders: „Solange sie nicht sicher sind, daß die Wahlen Saujudis gewinnt, solange werden sie keine ausschreiben.“ Landsbergis, der bei den Polen entsprechend unbeliebt ist, sagt man nach, er wolle die Räte überhaupt abschaffen und nach französischem Vorbild durch Präfekten ersetzen.

Das Mißtrauen auf beiden Seiten sitzt tief; es hat vor allem historische Ursachen. Das Gebiet um Vilnius gehörte kurzzeitig nach dem Ersten Weltkrieg zu Litauen, bis es die polnische Armee unter Berufung auf historische Rechte 1920 in einem Handstreich besetzte und zwei Jahre später annektierte. Damals stellten die Polen noch die absolute Bevölkerungsmehrheit in Litauen.

Obwohl die Polen in Litauen heute nur noch sieben Prozent der Bevölkerung ausmachen, kann sich Litauens Minderheitenpolitik durchaus sehen lassen: Insgesamt vier polnischsprachige Zeitungen erscheinen dort, einmal pro Woche gibt es eine polnische Fernsehsendung und täglich eine halbe Stunde polnischen Rundfunk. Viele Polen empfangen auch das polnische Fernsehen, in 123 Schulen gibt es Klassen mit polnischer Unterrichtssprache, davon 50 rein polnische Schulen. Auch eine polnische Universität hat inzwischen ihre Tätigkeit aufgenommen, allerdings warten die Organisatoren noch immer auf die Genehmigung der Behörden.

Hartnäckig hält sich in der polnischen Presse die Behauptung, die polnische Minderheit werde bei der Privatisierung benachteiligt. „Unser Problem ist, daß die intellektuelle Schicht der Polen hier im Krieg deportiert und danach nach Polen ausgewandert ist“, urteilt Artur Plokszto von 'Nasza Gazeta‘. „Übriggeblieben sind viele alte Leute, die mit den komplizierten Privatisierungsvorschriften nicht mehr fertig werden.“

Der Streit mit der polnischen Minderheit hat Litauen viel internationales Prestige gekostet. „Wir können nicht mit der Warschauer Informationspolitik mithalten“, sagt Arunas Eigirdas. Doch die ist es nicht allein. Inzwischen hat die Generalstaatsanwaltschaft Litauens sechs polnische Abgeordnete, die sich an einem „Koordinationsrat für ein autonomes polnisches Gebiet“ beteiligten, der staatsfeindlichen Tätigkeit beschuldigt. Selbst Czeslaw Okinczyc, der 1990 in ganz Europa für die litauische Unabhängigkeit warb, soll in Vilnius Politik „nach Anweisungen aus Warschau“ machen. Ermittlungen wurden indessen auch gegen den „Bund der Polen“ aufgenommen — bisher ergebnislos.

Manchen Minderheitenaktivisten ist das gar nicht so unrecht: „Natürlich wissen wir, daß die polnische Presse oft übertreibt“, gibt einer von ihnen offen zu, „aber warum sollen wir uns dagegen wehren? Das kommt uns doch zugute.“