piwik no script img

Französischer Transfusions-Skandal vor Gericht

In Frankreich wurden 1.200 Bluter HIV-infiziert/ Verseuchte Konserven nicht aus dem Verkehr gezogen/ Ärzte angeklagt  ■ Aus Paris Bettina Kaps

Für 250 Bluterkranke kommt dieser Prozeß zu spät: Sie sind bereits an Aids gestorben. Über tausend weitere Hämophile in Frankreich, darunter viele Kinder, sind HIV-infiziert, weil sie therapeutisch mit unreinem Blutplasma behandelt wurden. Fast jede Woche stirbt einer von ihnen. Die Klagen wurden bereits vor vier Jahren erhoben. Doch erst gestern begann in Paris das Gerichtsverfahren über den „Blutskandal“, der vor allem zwei Fragen beantworten soll: Warum wurden die verseuchten HIV-infizierten Blut- und Plasmakonserven so spät aus dem Verkehr gezogen? Wer war für die todbringende Laschheit verantwortlich?

Laut Anklage soll das „Nationale Zentrum für Bluttransfusion“ (CNTS) von Oktober 1984 an gewußt haben, daß seine Blutkonserven mit dem Aids-Virus infiziert waren. Aus finanziellen Gründen wurden die Konserven noch bis Oktober 1985 verkauft.

Vor Gericht stehen jetzt vier Ärzte. Dem damaligen Direktor des CNTS, Michel Garretta, und dem Chef der Forschungsabteilung, Jean- Pierre Allain, wird Täuschung über die Qualität der Blutkonserven vorgeworfen. Da das französische Bluttransfusionswesen rein staatlich organisiert ist und direkt dem Gesundheitsministerium untersteht, sind auch zwei hohe Ministerialbeamte in der Schußlinie.

Der frühere Generaldirektor für Gesundheit, Jacques Roux, und der ehemalige Leiter des Nationalen Labors, Robert Netter, müssen sich wegen unterlassener Hilfeleistung verantworten. Die Ex-Gesundheitsministerin Georgina Dufoix und ihr Staatssekretär Edmond Herve sind lediglich als Zeugen geladen. Dufoix hat sich bereits öffentlich mit dem Argument entlastet, sie sei „verantwortlich, aber nicht schuldig“.

In den Ohren der Bluter und ihrer Familien klingen die Anschuldigungen viel zu harmlos; viele von ihnen sprechen von Totschlag, von Blutvergiftung, von Mord. Ihrer Ansicht nach müßte der Prozeß nicht vor der Strafkammer, sondern vor dem Schwurgericht stattfinden.

Sie sind auch verbittert, weil der Skandal so lange vertuscht und ihre finanzielle Entschädigung hinausgezögert wurde. So versprachen die Versicherungsgesellschaften der Transfusionszentren den HIV-infizierten Blutern vor drei Jahren die Zahlung von mageren 30.000 Mark unter der Bedingung, daß sie sich schriftlich verpflichten, keine gerichtlichen Schritte einzuleiten.

Der Angeklagte Garretta hingegen hatte sich seine Kündigung vom CNTS vor genau einem Jahr vergolden lassen: Garretta handelte eine Abfindung von knapp einer Million Mark aus. Zudem schloß er ein Abkommen mit der „Nationalen Föderation zur Bluttransfusion“ (FNTS), wonach diese Behörde für ihn sämtliche Anwaltskosten übernimmt sowie „alle finanziellen Verurteilungen, die möglicherweise gegen Doktor Garretta verhängt werden“.

Daß es jetzt endlich zu diesem Prozeß kam, ist einer Enthüllung der Zeitung 'L'evenement du jeudi‘ zu verdanken. Vor einem Jahr hatte das Wochenmagazin einen vertraulichen Bericht vom Mai 1985 veröffentlicht. Darin hatte Garretta festgestellt, daß statistisch gesehen „alle unsere Konserven verseucht sind“. Für 1.000 Liter Blutplasma sind 4.000 bis 5.000 Spender notwendig. Ein einziger HIV-infizierter Spender reicht schon aus, um die gesamte Konserve unbrauchbar zu machen. Diese Erkenntnis hatte jedoch keine Folgen, obwohl die USA zu diesem Zeitpunkt längst ein Verfahren entwickelt hatten, bei dem der HIV-Virus in Blutkonserven durch Wärmebehandlung abgetötet wird. Das französische Gesundheitsministerium reagierte erst im Juli 1985. Doch anstatt die unbehandelten Konserven sofort vom Markt zu nehmen, beschloß es lediglich, die Kosten dafür vom 1. Oktober 1985 an nicht mehr zu erstatten.

Die vier Angeklagten und ein Großteil der Ärzteschaft verteidigen sich mit dem Argument, daß es 1985 noch nicht hinreichendes Wissen über den HIV-Virus gegeben habe, um die Ansteckung der Bluter zu vermeiden. Das Urteil des Gerichts soll im Oktober fallen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen