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Je effektiver, desto wahrer

■ Peter Weibel über Kunst, Computer und Unsterblichkeit. Ein Interview von Henrike Thomsen und Mirjam Schaub

taz: Im „Institut für Neue Medien“ arbeiten die teuersten Silicon Graphics der Republik. Kennen Sie die promethische Scham vor den Geräten? Man steht vor der Maschine und schämt sich, nicht so perfekt zu sein wie sie.

Peter Weibel: Die Geräte sind immer Produkt von Menschen. Warum sollte ich davor Scham empfinden? Scham empfinde ich nur gegenüber den Produkten anderer, zum Beispiel der Natur. Nein, ich bediene mich der Geräte, ich diene ihnen nicht. „Non serviam“ hat Luzifer zu Gott gesagt. Der Engel hat gewagt, nicht nur Ebenbild, sondern Gott ebenbürtig zu sein und von der Kopie zum Original aufzusteigen. Es ist im noch schlimmer ergangen als Prometheus, man hat ihn in die Hölle geworfen.

Es ist immer die klassische Philosophie, die von den eigentlichen Zielen des Menschen ablenkt. Der Mensch soll bescheiden sein, er soll Werkzeug Gottes sein und so weiter. Aber der Mensch verwirklicht sich eben darin, das abzustreifen. Deshalb bedient er sich der Technik.

Was die Probleme der Menschen keinesfalls löst.

In der Tat. Es geht von Heidegger bis Anders um das Problem: Was bedeuten das Gestell, die Geräte für uns? Wie kann ich Technik als menschliches Produkt auf die menschliche Existenz beziehen?

Technik, das ist die Entäußerung unserer sinnlichen und mentalen Fähigkeiten. Als Höhepunkt dieser Entwicklung ist der Computer die Auslagerung von Teilen unseres Gehirns. Grundvoraussetzung für Technik ist, daß der Mensch die Natur analysieren und erkennen kann. Was ich aber analysieren kann, ist auch mechanisierbar. Jede Maschine ist das physikalische Abbild einer Theorie. Habe ich also eine falsche Theorie, eine falsche Arithmetik zum Beispiel, wird die Maschine falsch rechnen — und umgekehrt.

Sie geben der Arithmetik den Vorzug: Die Formel ist realer als das, was sie bezeichnet. E = mc2 ist wahrer als die Sonnenwärme auf meiner Haut.

Gewiß. Die Formel ist ontisch tiefer als meine Haut. Meine Haut ist nur ein Interface, das sich ändern kann, eine Meßkette, somit auf die Wärme der Sonne. Die Mathematik ist, das hat Descartes schon gesagt, die universale Sprache der Natur. Mit ihrer Hilfe kann ich meinen Zugriff auf die Natur verändern. Genau das geschieht im Interface: meine Sinnesorgane sind wie technische Schnittstellen zur Außenwelt, die mit die Interaktion mit ihr ermöglichen. Wenn ich die Schnittstelle, das Intermedium zwischen den Menschen und der Welt, ändere, befinde ich mich in einer anderen Wirklichkeit.

Sie propagieren den unweigerlichen Aufstieg zum reinen Geistwesen?

Um das leisten zu können, muß sich der Geist vom Körper unabhängig machen. Das ist der alte Traum des Prometheus: nicht der Sklave des Körpers, der Natur, Gottes zu sein. Prometheus stiehlt den Göttern das Feuer. Dafür wird er bestraft, er zahlt drauf. So wie Prometheus wollen die Menschen mit Hilfe der Technik die Macht für sich gewinnen. Das ist ihr Metatraum.

Ein Traum, der zu keiner Realität erwachen kann?

Es gibt immer Reste der Realität, die nicht wegzudenken sind. Der Widerstand, die Maschine, der Schmerz. Im Grunde ist es eine Schleife. Der Schmerz ist ihr Ausgangspunkt. Ich bin in meinem Körper zu Hause, solange es mir gut geht. Wenn ich Schmerze leide, merke ich zum ersten Mal, daß ich nicht mein Körper bin. Der Geist schreit nach Hilfe. Der Schmerz spornt ihn an, die Realität zu transformieren. Mit relativem Erfolg versucht der Mensch, der Macht des Schmerzes zu entrinnen. Der Schmerz ist das Reale. Das ist auch die Grenze von Cyberspace. Mehr als Linderung kann das „Illusionstheater“ — wie ich das nenne — nicht leisten.

Das Illusionstheater ist immerhin in der Lage, den eigenen Gleichgewichts- und Zeitsinn völlig durcheinander zu bringen.

Wenn Sie sich im Cyberraum bewegen, sind Sie der interaktive Teil des virtuellen Systems, in dem sie agieren. Normalerweise kennen Sie das Gefühl der Stabilität. Der Raum verändert sich scheinbar nicht. Bei Cyberspace ist das anders. Mit jeder Bewegung der Hand im dataglove verändert sich das Bild des Raumes. Diese neue Skalierung, die Veränderung der Proportionen ist uns unbekannt. Aber das ist nur eine Gewöhnungsfrage.

Die Realität ist flexibler. Dieses Mehr an Flexibilität macht uns orientierungslos. Uns fehlen die alten Fixpunkte, nach denen wir unsere Bewegungen ausgerichtet haben. Das neue System aber ist virtuell, weil es erst durch Interaktion von Raum und Mensch entsteht. Die Leute haben es vorerst lieber, wenn sie alles kontrollieren können, wenn sie Herr der Lage sind.

Die Computer-Kunst kennt diesen einseitigen Bezug nicht. Sie differenziert die alten Grenzen aus, gestaltet sie mit.

Sie sprechen wie selbstverständlich von Computer-Kunst. Was ist das Besondere, die Kunst an ihr?

Mit Hilfe des Computers wird eine Tendenz fortgesetzt, die aus den 60er und 70er Jahren datiert. Damals fing man an, Kunst nicht nur mit, sondern in den Geräten zu produzieren. Der Akzent verlagerte sich von der Handhabung der Hardware (Farbe etc.) auf die Software. Heute aber brauche ich die Geräte selbst, um Kunst zu rezipieren. Das ist das entscheidend Neue. Um den Anblick eines Ölgemäldes zu genießen, brauche ich keine Geräte. Umgekehrt reicht es nicht, den programmierten Chip auszustellen: ich sehe das Trägermaterial, nicht das Kunstwerk. Das Display für Computer-Kunst ist nicht im Trägermaterial fixiert. Es ist für mich als Betrachter variabel, ich kann es ständig manipulieren. Deshalb ist diese Kunst virtuell und interaktiv. Ich habe eine freiere Skalierung, die Größenordnung und Proportionen sind frei schwebend: den freien Zugriff auf die Daten des Kunstwerks.

Es irritiert Sie nicht, daß sie einen sekundenschnellen Zugriff haben, ihre Kunst per Knopfdruck erledigen?

In dem Moment, da beispielsweise die Feinheiten der Farbgebung mechanisch produzierbar sind, ist es ein Beweis dafür, daß die alte mühselige Prozedur des Farbmischens, die Art von ästhetischen Strategien überflüssig geworden ist. Die Leute sagen zwar: „Schade, daß es vergeht.“ In Wirklichkeit ist eine historische Idee obsolet geworden. Wenn man geglaubt hat, Kunst bestehe darin, Farbnuancen mit dem Pinsel zu mischen, weiß man heute durch die mechanische und millionenfache Computerleistung, Kunst besteht eben nicht darin.

Das Projekt heißt also: Entrümpelung des Kunstbegriffs.

Ja. Das Verschwinden ist gleichzeitig auch immer das Auftauchen von etwas Neuem. Die telematische Aura ist nicht länger eine der Nähe, wie sie Benjamin beschwört, sondern eine Aura der Ferne. Ihr Wesen liegt in der Distanz.

Benjamin hat die Verehrung der Aura als „Kultwert“ ausgewiesen. Kehren wir nach dem Diktat der Ausstellbarkeit von Kunst zum Kultobjekt zurück?

Wir laufen sogar Gefahr, die Geräte — wie das Auto — zu Fetischen zu machen. Aber die telematische Aura will primär die soziale Kontrolle über die Mitmenschen aufheben. Ein Beispiel: Der Mathematiker Kurt Gödel hat es zeitlebens vorgezogen, mit seinen Gesprächspartnern zu telefonieren, anstatt mit ihnen zu sprechen, auch wenn sie gerade im Nebenzimmer gesessen haben. Gödel fürchtete, von jemandem, dessen persönliche Aura er spüre, kontrolliert zu werden.

Würden Sie lieber mit uns telefonieren?

Die Tatsache, daß wir den gleichen Raum teilen, ist sehr unangenehm. Das ist der Pauli-Effekt, auch in der Kommunikation: Zwei Elektronen können nicht die gleiche Position haben. Ich führe meine Beziehung am liebsten auf Distanz. Das ist ehrlicher.

Kann Kunst lügen?

Der Großteil der Kunst lügt. Den Anspruch der „Ästhetischen Theorie“, den allgemeinen Konsens, daß Kunst die Wahrheit sagt, finde ich absolut lächerlich. So wie ein Land und seine Politik kann auch die Kunst lügen, da sie Teil hat an seiner Ideologie. Sofern Kunst eine soziale Konstruktion ist, ist sie genauso lügnerisch wie die anderen. Kunst hört erst dann auf zu lügen, wenn sie anfängt, sich selbst mit einer Diskursanalyse in Frage zu stellen. Wenn sie versucht darauf zu reflektieren, wie und warum sie entsteht. Sie wird dann meistens abgelehnt, als soziale Konstruktion nicht akzeptiert.

Die Computer-Kunst ist aber als soziale Konstruktion anerkannt. Als Abfallprodukt der Militärtechnologie verschwimmen bei ihr die Grenzen zwischen Kunst und Wissenschaft. Wenn ich die Kunst digitalisiere, also ausschließlich durch ein mathematisches Verfahren erzeuge, ist dann nicht auch das künstlerische Produkt von Wissenschaft ununterscheidbar?

Die Wissenschaft hat immer künstlerische Aspekte. Als erste Annäherung sei gesagt: Es findet in bezug auf die Computer-Kunst tatsächlich nur eine Akzentverschiebung statt. Die Gesellschaft stellt die Regeln auf und sagt: Das ist Wissenschaft. Es gibt einen approach, der ist gesellschaftlich konstruiert — über Jahrhunderte hinweg. Analog geschieht es mit der Definition von Kunst. Als Künstler kann man sich der Festlegung nicht entziehen. Ich habe da ja das besondere Problem, daß ich diese Grenzmarkierungen nie akzeptiere.

Schönheit ist nicht länger das letzte Wahrheitskriterium?

Diejenige Kunst wird wahrer sein, die effektiver ist. Schönheit als Kriterium stellt sich erst dann an, wenn alle anderen weggefallen sind. Effektive Kunst bringt den Bürgerinnen und Bürgern mehr Kritik, aber auch mehr Lust.

Das Profil, das Sie skizzieren, scheint der Code einer Computer- Elite zu sein. Angesichts der Menschen, die sich gerade den Goldenen Schuß in der Taunusanlage geben, ist das Zynismus.

Bei einer so komplexen Transformation der Welt, die immer schwieriger zu versorgen wird, gibt es einzelne, die resignieren, Drogen nehmen und so weiter. Ich würde aber nicht sagen, daß die Welt insgesamt inhumaner wird, obwohl es punktuell, lokal immer mal wieder inhumane Räume gibt.

Ein „vernachlässigbares Phänomen“ also?

Es ist für mich ein Symptom dafür, was in dieser Gesellschaft nicht in Ordnung ist. Man pocht auf den alten Straf- und Drohmechanismus, lebt noch nicht virtuell genug. Das rauschhafte Bewußtsein allerdings, die Auflösung von Zeit und Raum als psyché und nicht techné — diese Romantik teile ich nicht. Ich lehne seinen Suchtcharakter ab. Der Drogenrausch hat mit Freiheit wenig zu tun. Die mediale Welt, die ich mir vorstelle, ist durchlässiger.

Wie soll Freiheit in einem computerisierten System möglich sein, wenn den Menschen vor lauter Einzelfakten das Wissen um Zusammenhänge fehlt?

Zusammenhänge bleiben Fragen der Objektbesetzung. Das ist der „Baby-Oh-Effekt“, wie Freud es nennt: Eine Mutter gibt dem Kind ein JoJo und läßt es damit allein. Wie geht das Kind damit um? Es schreit nach der Mutter und lernt, daß das Spielzeug da ist, sobald die Mutter fehlt. Es soll lernen, Absenzen zu ertragen. Und es kann nichts lernen, ohne den Vorgang auf die symbolische Ebene zu heben. So ersetzt die Spule die Mutter. Das Kind verwechselt von Anfang an Nähe und Kontrolle. Meine eigene Mutter war so abwesend, daß ich Nähe schwer ertragen kann... Ein Kind muß aber die symbolische Manipulation lernen, um sich geborgen zu fühlen und gleichzeitig der Mutter die Freiheit zu lassen.

Womit haben Sie als Kind gespielt?

Mit nichts. Weil nichts da war. Ich habe dann, wie es männliche Natur ist, Eroberungszüge gemacht. Es gab Felder, Bäume, Plätze von denen habe ich gesagt: Die gehören mir. Ich habe mir immer Territorien einverleibt. Das war alles, was ich besaß.

Meine Mutter ist Stiegenputzerin gewesen. Im vorigen Jahrhundert wäre es mir unmöglich gewesen, zu studieren und einen sozialen Aufstieg zu machen. Ich hätte wenigstens zum Militär oder ins Kloster gehen müssen... Tatsächlich war ich eine Zeitlang sehr religiös. Ich war so mönchisch, daß ich inständig gebeten habe, ER möge einen Versucher schicken und mich prüfen. Meine Versuchung: das ist Kunst, das ist Philosophie gewesen.

Bis zum Sommer führten Sie ein rastloses Künstlerleben, spurteten zwischen multimedialen Professuren über die Kontinente hinweg. Dann kam der Herzinfarkt.

Ich habe meinen Körper zu sehr als Maschine gesehen. Die vielen Prothesen, derer ich mich bediene, die Flugzeuge und Computer haben mir eine Beschleunigung erlaubt, mit der mein Körper nicht mitgehalten hat. Beim Infarkt habe ich eine Hilflosigkeit gespürt, die mir zuwider ist. Eine Ohnmacht sondergleichen. Im Stich gelassen. Das, was ich am wenigsten ertragen kann.

Und die Unsterblichkeit?

... ist das Wichtigste. Ich meine das nicht persönlich, sondern überhaupt. Der Mensch will universumsumfanggleich werden.

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