: Kniefall vor der Immobilienlobby
■ "Schöner Wohnen in Neufundland", taz vom 18.6.92
Betr: „Schöner Wohnen in Neufundland“, taz vom 18.6.92
Warum trampeln alle auf Helmut Kohl herum — hat er nicht von einer schnellen Angleichung der Lebensverhältnisse gesprochen? Welche er damit meinte, hat er doch gar nicht gesagt.
Als ich im Sommer 90 den OstrentnerInnen, Alleinerziehenden und Familien mit Kindern sagte, daß als erstes die Mieten dem Westniveau angeglichen und dadurch mindestens 60 Prozent zu Sozialfällen würden, hat man mich der Panikmache bezichtigt und mich als „rote Socke“ beschimpft. Heute kommen diese Leute, die vor zwei Jahren blindgläubig den PolitikerInnen nachgelaufen sind, und beklagen sich über die Raffgier der Westdeutschen. Mir geht das Gejammere meiner ostdeutschen MitbürgerInnen zunehmend auf die Nerven. Wann endlich werden sie begreifen, daß sie ihre „Heimat“, nämlich ihre Wohnung, nur durch massive Proteste und massenträchtige Demos auf den Straßen schützen können?
Daß es in Ost-Berlin (nicht nur in Leipzig) brodelt, weil hier die Verdrängung von OstmieterInnen am stärksten spürbar wird, muß jeder/m klar sein. Es sieht doch ganz so aus, als würde versucht, per Verdrängung, das Wohnungsproblem des Westens zu lösen. Schwaetzers Kniefall vor der Immobilienlobby zielt langfristig darauf, daß sie sich eine Entlastung des Drucks auf den westdeutschen Wohnungsmarkt verspricht. In Berlin und dem Umland funktioniert das ganz gut — Besserverdienende ziehen ins Umland, sozial Schwächere suchen sich in OstBerlin eine (noch) kostengünstige Wohnung. Davon haben aber Ballungsräume, wie das Rhein-Main- Gebiet, München oder Stuttgart, gar nichts. Sozialwohnungen werden nach wie vor nicht gebaut, Immobilienbesitzer und Banken haben satte Zuwächse, und was aus den OstmieterInnen wird, interessiert sowieso niemand. Ich glaube, erst wenn wir New Yorker Obdachlosenzahlen haben, wird die Lethargie in Aggression umschlagen. Doch dann wird es zu spät sein. Renate Helling, Ost-Berlin
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen