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Individuelle Auseinandersetzung mit der Vergangenheit

■ betr.: "Soll man die Kleinen hängen?", taz vom 10.6.92

Betr.: „Soll man die Kleinen hängen?“ von Henryk M.Broder,

taz vom 10.6.92

Herr Broder kennt in seinem Elfenbeinturm offensichtlich weder die (vergangene) DDR-Wirklichkeit noch diejenige des „Normalbürgers“ in der (alten) Bundesrepublik. Je mehr über das Leben in der alten DDR bekannt wird, desto bewußter werden auch gerade unangenehme strukturelle Gemeinsamkeiten.

Allein aus der Presse sind genügend Beispiele willfähriger Beamter, Staatsanwälte etc. bekannt, die bei einem Zusammenbruch der Bundesrepublik kaum anders dastünden als so mancher SED-Richter und kleine Parteibonze.

Hat es zum Beispiel der Karriere eines der zuständigen Finanzbeamten geschadet, die jahrelang die Parteispenden passieren ließen? Wurde nicht vielmehr der korrekte Beamte, der nicht mitspielte, am Ende zwangsversetzt?

Wie war das doch mit der uneidlichen Falschaussage Kohls vor dem U-Boot-Untersuchungsausschuß? Gegen den Kanzlerberater Teltschik leitete die Staatsanwaltschaft Bonn noch ein — inzwischen eingestelltes— Verfahren wegen des Verdachts der Falschaussage ein, die offensichtlich begründete Anzeige gegen seinen Chef wurde von vornherein abgelehnt.

Verurteilung kleiner Demonstranten, milde Bewährungsstrafen für den Politiker, der im Suff Leute totfährt, sehr schnelle Einstellung der Recherchen beim Tod eines Mitarbeiters G.Wallraffs bei dessen 'Bild‘-Arbeiten — würde Herr Broder hier die gleichen Maßstäbe anlegen?

Bei der Verhinderung einer Aufführung von Haydns Schöpfung gegen die WAA in Regensburg durch Uni-Beamte spielte übrigens die evangelische Kirche eine ähnliche Rolle wie bei staatlichen Eingriffen in der DDR und ermöglichte die Aufführung.

Geradezu zynisch mutet es da an, wenn die Wieder- und Weiterverwendung Verantwortlicher in Diktaturen wie des NS-Regimes gerechtfertigt wird, versehen mit dem 'Bild‘-zeitungsreifen infamen Auf- eine-Ebene-Stellen des maßgeblichen Kommentators der Nürnberger Rassengesetze mit einem Manfred Stolpe.

Das Ziel kann es also weder sein, die Großen laufen zu lassen und die Kleinen nicht oder umgekehrt, sondern einzig die individuelle Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. [...] Alfred Hartmann, München 80

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