SOMNAMBOULEVARD — WORTUELLE REALITÄT II Von Micky Remann

Heut nacht geht es um Kiwis, Eskimos und ikonosomatische Kalauogramme. Aus folgendem Grund: Gute Träumer sind oft lausige Kommunikatoren. Auf die Essenz ihrer Erlebnisse angesprochen, verstummen sie entweder ganz oder halb, à la: „Es war so... oh!... Es läßt sich gar nicht in Worte fassen!“ Oberflächlich gesehen mag das zutreffen, unterflächlich nicht, denn mit dem Problem „unorthodoxes Erlebnis sucht sprachliche Form“ wurden schon ganz andere konfrontiert. Amazonas-Indianer zum Beispiel bei der ersten Schneeballschlacht oder Eskimos beim ersten Kiwibiß. Sie erfanden ihre linguistischen Lösungen, warum nicht auch die Träumer beim nie geträumten Traum? Gut, und wir alle operieren mit kümmerlichem Vokabular, klobiger Syntax und stumpfer Grammatik, aber das ist kein Anlaß zur Verzweiflung, sondern Ansporn zur Worterfindung. Ob jüngere Fachbegriffe wie „Hippie“, „Punk“ und „Broiler“ oder ältere wie „Glocke“, „Grießbrei“ und „Verrechnungsscheck“, im Urgrund der Sprachgeschichte gibt es kein Wort, das nicht aus dem Nichts autopoetisch herbeigesogen und gesungen wurde. Ergo, wenn Du eine Neuerfahrung träumst, für die du ein Wort brauchst, das es nicht gibt, sollst Du es so lange herbeilallen und -labern, bis auch die Duden-Redaktion davon Kenntnis nimmt. Alle Worte gab es irgendwann einmal nicht und wurden dann doch Realität, wortuelle Realität eben, und inzwischen kann niemand das Wort „Glocke“ lesen, ohne im Gehirn die entsprechende Vorstellung zu skulpturieren. Hier knüpfen nun unsere somnambulen Sprachforscher und -kneter an. Sie lieben es, die transparente Formbarkeit der im Traum sich träumenden Wortströme für postgrammatische Exkursionen jenseits ihrer platten Bedeutungsschwerkraft zu nutzen. Wie? Eben wird hier das Wort „Glocke“ hologrammatisch klargeträumt. Kaum hat es einer ausgesprochen, entsteht, wie Du siehst, eine Bim- Bam-Basisspur, von der ein etymologischer Ast zur englischen „clock“ führt, ein anderer zu „cloche“ und „Clochard“ auf französisch, während die Wurzel zum keltischen „cloc“ zurückläuft, verbunden mit dem indogermanischen „kleg“, lautmalerisch für geckern und lachen, und schon tun wir selbiges. Oder auch Gefühle, oh ja, besonders die subtil-ekstatischen, brauchen hier nicht in händeringender Banalität verhunzt zu werden, nein, wir projizieren sie im Verhältnis 1:1 als phonetisches Son-et Lumière Sprachlicht für alle sichtbar in die Tiefe des T-Raums. Ich spüre, was Du fühlst, denn die Innenfläche Deiner Empfindung ist die Außenfläche unserer spontanen Kommunikations-Gestalt. Es gibt keine Mißverständnisse oder Lügen mehr, nur noch fließende Kalauer, an denen mehrfarbig-mehrsprachige Piktogramme bimmeln, bammeln und baumeln. Und für unbeschreibbar brauchen wir das alles auch nicht zu halten, weil ja unsere ikonosomatischen Kalauogramme ihre eigene Beschreibung sind. Wir sollten die Dinger in den Wachzustand exportieren.