: Eigentor „Rucksackitaliener“
Die Reklamierung grenznaher oder ehemals besetzter Gebiete am Balkan bringt Italien in massive Zuwanderungsschwierigkeiten/ Potentielle Flüchtlinge durchforsten ihre Ahnenreihe ■ Aus Rom Werner Raith
Von ihrem Großvater hat Sandika d'Arrengo „im Grunde keinerlei Eindruck“: der Mann war gerade mal einen Monat in der Umgebung stationiert, ließ sich nach drei Jahren besuchshalber wieder mal sehen und verschwand dann endgültig aus dem Leben der Familie. Heute ist der treulose Geselle zu einem wertvollen Erbstück geworden: mit seinem Namen, den er der zu Mutterleiden gebrachten Frau aus Dalmatien 1942 immerhin hinterließ, bekommt die Familie das Recht, sich in Italien nicht nur politisches Asyl zu verschaffen, sondern sogar die Staatsbürgerschaft zu erwerben. Das Problem: die Dokumente, die Einschlägiges beweisen, sind möglicherweise beim Beschuß von Dubrovnik verbrannt. Sandika d'Arrengo fahndet daher in den Flüchtlingslagern Kroatiens und bei einem Besuch in Bozen auch bei dort untergebrachten Flüchtlingen eifrig nach Bekannten und Verwandten, die ihr vor Gericht die für sie günstige Herkunft bestätigen könnten. Derzeit durchforsten mehrere zehntausend ehemalige Jugoslawen ihre Ahnenreihe. Da Italien sich in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts auf dem Balkan, speziell in den nachmals jugoslawischen Gebieten, recht heftig kriegerisch betätigt hat, könnten viele fündig werden. Mit Entsetzen hat die amtierende Einwanderungsministerin Margherita Boniver von ihren Beamten Zahlen zur Kenntnis genommen, die auf hundert- bis zweihunderttausend Anspruchsberechtigte hinauslaufen. „Dazu“, so ein Beamter der Immigrationsbehörde, „kommt ein ganzes Heer, das sicherlich mit gefälschten Dokumenten anrückt, und angesichts des Chaos im Osten wird es schwerfallen, da alles nachzuprüfen.“
Beamte der Finanzpolizei an den Grenzen zu Slowenien und Kroatien, Geheimdienstler und V-Leute im ehemaligen Jugoslawien berichten von einem schwunghaften Handel mit falschen Stammbäumen. In verschiedenen Städten der bereits „beruhigten“ Gebiete wie etwa dem italienisch geprägten Istrien laufen „Beratungsbüros“ auf Hochtouren: da sitzen neben einigen ehemaligen Staatsbeamten des Jugo-Apparates auch Italiener, die bei Fehlen einschlägiger Abstammungsnachweise mit dem Antragsteller mal für einige Zeit hinters Haus verschwinden. Eine Woche danach kann der Betreffende dann, gegen Summen zwischen umgerechnet 2.000 (Einzelperson) und 8.000 DM (fünfköpfige Familie) angeblich „wasserdichte“ Nachweise für die Einbürgerung in Italien abholen. Erste Prüfungen haben ergeben, daß die Ausweise tatsächlich gut sind — gestohlen von Camorrabanden in den Einwohnerämtern der Umgebung.
Die ganze Sache hat den Italienern vor allem Außenminister De Michelis eingebrockt. Seit er — in seiner ständigen Angst vor deutschen Hegemoniegelüsten auf dem Balkan — alles, was auch nur mal ein oder zwei Jahre italienischer Herrschaft unterworfen war, als Einflußsphäre seines Landes reklamiert, steht die Frage einer Sonderbehandlung zuwanderungswilliger Italienischstämmiger auf der Tagesordnung. Ihnen die Tür vor der Nase zuzuschlagen würde den seit der Parteiergreifung im Streit um den Namen der Republik Mazedonien geschädigten Ruf Italiens weiter lädieren. So suchen die Einwanderungsbeamten die Geister, die De Michelis rief, wieder zu bändigen — vor allem durch Stillhalten. „Kommt das an die große Glocke“, so der Beamte im Immigrationsministerium, „wäre bald ein Dammbruch auch aus anderen Ländern fällig, etwa aus Albanien, wo Mussolinis Krieger bekanntlich auch genug Zeit zur Zeugung hatten“, womit er wohl vor allem Vergewaltigungen meint.
Am liebsten wäre Italiens Politikern, wieder mal, die „europäische Regelung“: wer sich als Italienischstämmig ausweist, wird aufgenommen — dann aber nach einem Quotensystem auf die zwölf Länder der EG verteilt. Da winken die Partnerstaaten ab: „Man stelle sich vor“, so ein deutscher EG-Beamter, „wir hätten verlangt, unsere polnischen Umsiedler nach Italien weiterleiten zu dürfen.“ Das Problem, so scheint es, müssen Italiens Regenten zunächst mal ins Fach „Preis der Hegemonialbestrebungen“ legen.
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