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Amnesty International der Poesie

■ In Rotterdam fand das „23. International Poetry Festival“ statt

Ein Transitraum. Irgendwo im ersten Stockwerk der Rotterdamer Kongreßhalle „De Doelen“, eingekastet von Backsteinfront, Marmorbalustrade und Wohnzimmertäfelung, sind im Karree die Stühle aus weißem Kunstleder aufgestellt. Auf einem handgeschriebenen Zettel steht: „Please type here“. Eine junge Frau nähert sich der Vorrichtung, schiebt 'Le Monde‘, 'FAZ‘ und 'Gazet van Anterpen‘ beiseite und beginnt, auf der IBM-Maschine zu tippen. Einige Schritte auf sie zu genügen, die Verwirrung perfekt zu machen. Das Namensschild, das die Frau am Revers trägt, zeigt ein verspieltes Äffchen. Dieses Äffchen hier heißt Antjie Krog. Und ist Lyrikerin.

Zusammen mit 43 DichterInnen aus Ägypten, Bulgarien, England, der Tschechoslowakei, Malawi, den Niederlanden, China oder Deutschland ist Antjie Krog (Südafrika) zum 23. International Poetry Festival nach Rotterdam gekommen. Rund eine Million Gulden lassen sich die Niederlande das Kulturereignis kosten. Eine Woche lang lasen LyrikerInnen aus ihren Werken, ein Übersetzerpool besorgte eilends die niederländischen und englischen Fassungen. Wer einmal Mang Ke, den streitbaren Mann aus der Volksrepublik China, lesen hört, wird den Ohren nicht länger trauen, wenn sich die erste Gedichtzeile in der Übersetzung als „een kleine wijngaard/ was mijm zoete thuis“ oder „A schmall vineyard/ Was my sweet home“ entpuppt. Das Zuhören gerät zum Ethnotrip; die Aufmerksamkeit findet zurück zu Rhythmus, Intonation und innerer Klangstruktur. Das Wort- für-Wort-Verständnis muß zweitrangig bleiben.

Während ein internationales ÜbersetzerInnenteam gerade die erste „Interlinearversion“ zu Gennadi Ajgi besorgt — dem Chuwaken (GUS), der für seine unzugänglichen, hermetischen Zeilen bekannt ist —, wechselt John Ashbery (USA) mit dem französischen Altmeister Eugène Guillevic ein paar freundliche Worte. Als Freund des Hauses und Teilnehmer des ersten Poetry- Festivals, ist Guillevic gekommen. Die Firma Ford hat den 85jährigen nach Rotterdam chauffiert. Nur einige Zeilen wird Guillevic lesen: „Aujourd'hui C'est le jour du soleil./ Il n'est pas triomphal, Il n'est pas solennel, Il est content d'être soleil./ Toutes les choses Se plaisent à la définition Qu'elles se donnent./ C'est le jour /Où le soleil écrit son poème.“

John Ashbery ist der andere „Klassiker“ des Festivals. 1927 im Staat New York geboren, studierte Ashbery Literaturwissenschaft, wanderte nach Paris aus. Mit 25 Jahren veröffentlichte er mit Turandot and Other Poems seinen ersten Gedichtband. In die Staaten zurückgekehrt arbeitet er seit 1980 auch als Kunstkritiker für 'Newsweek' und bekam für seine Arbeiten unter anderem den Pulitzer Preis. Zusammen mit Kenneth Koch, James Schluyler und David Shapiro zählt John Ashbery zur „New Yorker“-Schule der Poesie: In seinen scheinbar paralogischen Gedichten ist der Ort des Sprechenden nie auszumachen. Satzweise finden feine Abweichungen innerhalb der Semantik statt. Zurück bleiben Muster aus fließenden Traumbildern, die Sinn und Trost wie Kleinode bergen.

Ein Festival der Arrivierten also? „Ich komme zu diesem Festival, weil es meine Art des Reisens ist“, sagt John Ashbery. „Die Lesungen der anderen interessieren mich kaum. Heute wäre ich fast eingenickt, bis ich auf einmal ein Gedicht von Durs Grünbein hörte. Gibt es von dem noch mehr Übersetzungen ins Englische?“ Und weil auf diesem Festival Dünkel ein Fremdwort ist, lädt Ashbery den 29jährigen Suhrkamp-Autor einfach zum Abendessen ein.

Wer sich für die Lyrik junger KünstlerInnen interessiert, kann bei Poetry International mit Petr Halmay (CSFR), Durs Grünbein (BRD) oder Gu Cheng (China) durchaus auf seine Kosten kommen. Störend nur, daß Frankreich und Spanien in dieser Hinsicht seit Jahren überhaupt nicht, die Niederlande und Belgien ziemlich überrepräsentiert sind (die TeilnehmerInnen des Vorjahres haben traditionell Vorschlagrecht). Die wie mit einem Brecheisen geschlagenen Zeilen des 28jährigen Newcomers Simon Armitage (GB) im Stil von „We have brought her here to die and we know it“, sind auf die Dauer nervtötend viril, und die Hawaihosen, die er trägt, bieten dem Blick allzu grell Ablenkung. Ergiebiger ist es, die Verse des Inders Vikram Seth zu verfolgen, wie sie Raum für Ironie, Herzstiche und mehr lassen.

Wer immer noch nicht müde ist — sich im Transitraum, wie so viele, mit dem Wirtschaftsteil der 'FAZ‘ bedeckt, auf den weißen Kunstpolstern ausstreckt und hemmungslos schnarcht —, kann sich zu Shuntaro Tanikawa, dem übermütigen Japaner, gesellen. Tanikawa heckt ständig neue Stilblüten aus und könnte, wenn man ihn ließe, sicher herrliche Kinderbücher illustrieren.

Poetry International ist ein ziemlich verwirrendes Spektakel. Will man den Organisator, Martin Mooij, sprechen, muß man darauf gefaßt sein, daß ihn in der nächsten Minute irgendeine Flüchtlingskommission ans Telefon abkommandiert. Denn Poetry International ist auch ein Politikum. Seit 14 Jahren wird, angeregt vom PEN und 'Index On Censorship‘, ein Preis für inhaftierte oder verfolgte DichterInnen verliehen. In diesem Jahr geht die mit 10.000 Gulden dotierte Auszeichnung an Park No-hae aus Südkorea. Poetry International ist — mit aller Ironie und allem Ernst — so etwas wie das Amnesty International der Poesie.

Mit dem Äffchen hat es angefangen, mit ihm soll es enden. Am letzten gemeinsamen Abend findet „De Nacht van de Aap“ (Die Nacht des Affen) statt. Schließlich ist die chinesische Lyrik (mit sechs DichterInnen vertreten) Schwerpunkt des Festivals, außerdem haben wir nach dem chinesischen Kalender 1992 das Jahr des Affen. Alle DichterInnen sollen ein Gedicht über den nahen Verwandten schreiben. Wer so etwas ausheckt? Martin Mooij, der Veranstalter, legt sein Lachen in tausend Fältchen. „Ich bin ein Chaot. Und ich will ein chaotisches Festival.“ Mirjam Schaub

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