Im Zeichen der Verhütung

Über den 5. Internationalen Comic-Salon Erlangen (18.-21. Juni 1992)  ■ Von Martin Frenzel

Um's vorwegzunehmen: dieser Salon der Superlative (20.000 Comicophile) stand gleich in mehrfache Hinsicht im Zeichen der Verhütung. Schon weil die Jury des Erlanger Max-und-Moritz-Preises den Knollennasen-Chronisten des Aids-Zeitalters und Szeneliebling Ralf König krönte. „Wer Ralf König nicht kennt, der verpaßt das Leben“, zitierte Conferencier Cuno Affolter aus der Laudatio.

Die Entscheidung für Ralf König war überfällig: Werke wie Das Kondom des Grauens, Lysistrata (sehr frei nach Aristophanes), Beach Boys oder Pretty Woman. Der bewegte Mann und Schwulcomix (mit Walter Moers) sind längst Standards der visuellen Alltagskultur. Königs ungemein treffsichere Parodien und Gags, Fummeltrinen, Lederkerle und Bewegungsschwestern erfreuen sich mittlerweile auch in der gutbürgerlichen Hetero-Wohnstube großer Beliebtheit. Selbst simple Neuauflagen seiner frühen Schwulcomix gehen frisch verpackt mit neuen Covern und Titeln (wie Prall aus dem Leben, Silvestertuntenball, Sahneschnittchen) weg wie warme Semmeln. Und: Ralf König — das ergab die gut besuchte Podiumsdiskussion über Comicfrauen — Frauencomics: Ende der Männer-Domäne Comic? im Kulturtreff — ist meist die „Einstiegsdroge“ für weibliche Leser, um sich dem unbekannten „Abenteuer“ Comic zu nähern (neben Walter Moers' Das kleine Arschloch oder dem gelbgefleckten Urwaldviech des belgischen Starhumoristen André Franquin, Marsupilami). Kein Wunder, daß Ralf König öffentlich kundtat, bei Signierstunden seien zwei Drittel seiner Fans Frauen.

Des weiteren firmierte die Verhütung aber auch als der rote Faden im vielfältigen, qualitativ fast durchweg hochkarätigen Angebotschaos des Salons: so in Form der Ausstellung Gummi (in Zusammenarbeit mit der Bundesgesundheitszentrale), in der sich international renommierte Comic-Zeichner wie Joost Swarte, Miguelanxo Prado, Matthias Schultheiß, Jean-Claude Mézières, Moebius alias Giraud und eben Shooting- Star Ralf König am Kondom rieben (in Comicform, versteht sich). Die Gummi-Schau — schon in Angoulême zu sehen — gehörte zu den Ruhezonen abseits des überbordenden Massenandrangs im Kongreßzentrum: dort präsentierte sich die internationale Verlagsmesse mitsamt einer bis dato nicht gekannten Präsenz ausländischer Comic-Prominenz „live“ dem Publikum.

Verhütung war aber auch im übertragenen Sinn vonnöten: stand doch die Zukunft des Internationalen Comic-Salons selbst zur Disposition. „Die Erlanger SPD wollte den Salon kippen“, sagt Festivalchef Karl Manfred Fischer noch vier Monate nach den Haushaltskämpfen bitter. So kam es, daß eine skurrile Allianz aus CSU, FDP und Grünen (samt der einen Stimme der kulturpolitischen Sprecherin der SPD) das in Deutschland einzigartige Festival der grafischen Literatur vorm Aus rettete. Das Schicksal hing am seidenen Faden: eine Stimme gab den Ausschlag, gleichwohl kürzte der Stadtrat den Gesamtetat um 180.000 Mark. Und dies bei in diesem Jahr anfallenden Kosten von rund 560.000 Mark. „Die Haltung der Erlanger SPD hat dem kulturellen Ansehen der Stadt geschadet“, so Karl Manfred Fischer, seines Zeichens Leiter der Abteilung Bildende Kunst und kulturelle Programme im Kulturamt der Frankenmetropole.

Wie sehr dieses Verdikt zutrifft, ließ sich am Programm des diesjährigen Salons ablesen: einen der absoluten Höhepunkte bildete die noch bis zum 26. Juli laufende exzellente Werkschau zu Ehren des Argentiniers Alberto Breccia in der Städtischen Galerie. Den 73jährigen, in Montevideo (Uruguay) geborenen, Nestor des argentinischen Comics ehrte Erlangen mit dem diesjährigen Spezialpreis für sein grandioses Lebenswerk. Der anwesende Breccia gehört zu den wenigen Comicschaffenden, deren Können sich sowohl in Schwarzweißgrafik als auch in expressionistischen Farben äußert. Sein Hauptwerk Perramus kommt erst 1993 mit fast zehnjähriger Verspätung erstmals in deutscher Sprache (bei Carlsen) heraus: eine gewaltige Saga des argentinischen Alptraums, eine großartige Abrechnung mit der argentinischen Folter- und Militärjunta der siebziger und achtziger Jahre in Buenos Aires, ein komplexes Sittengemälde um die Suche nach der Schuld und der eigenen Identität in der Tradition eines Literaten wie Jorge Luis Borges. Alberto Breccia inszenierte seine vier Perramus-Bilderromane zusammen mit Texter Juan Sasturain in stark schematisierten Schattenbildern und mit grotesk-morbiden Protagonisten. Breccias Licht- und Schattenillusionismus, sein Spiel mit dem Großflächigen und Plakativen der Hintergründe, abgründiger Symbolik und filmischen Sequenzen oder Handlungsabläufen — all dies setzte neue Maßstäbe im Medium des grafischen Erzählens.

Erlangen war auch die Parade der „großen alten Männer“ (neben Breccia die sehenswerte Will-Eisner- Schau) und der „jungen Klassiker der Zukunft“ (wie Matthias Schultheiß, André Juillard und dessen akribischer Comic-Klassizismus und historischer Kulissencomic sowie der Tägliche Wahn-Satiriker aus Galicien, Miguelanxo Prado). Einzig die gelungene Robert-Crumb-Show Good bye, cruel world wurde nicht durch den Künstler selbst aufgewertet. Dafür erschien Gilbert Shelton, um die ab Ende Juni in der Berliner Galerie am Chamissoplatz placierte Schau 25 Jahre Freak Brothers (deutsch beim Berliner Rotbuch- Verlag) höchstselbst in Augenschein zu nehmen — eine von insgesamt 21 Expositionen des Salons.

Eine echte Attraktion war auch die Schau über dänische Comics (Die Wikinger kommen!), die im Juli nach Kopenhagen in die neue Comic-Galerie „Det kulorte Bibliothek“ wandert. In 60 Exponaten ließen sich 80 Jahre dänischer Comic-Geschichte informativ und anschaulich nachvollziehen. Überdies kamen die Wikinger auch wirklich nach Erlangen: die Zeichner Peter Madsen (Walhalla-Funny), Freddy Milton (Micky Maus, Funny Animals), Rune Kidde, Niels Roland (Albenreihe Die Zeit der Abrechnung über die deutsche Besatzungszeit in Dänemark 1940-45) und Ole Comoll Christensen (Der Dimensionsdetektiv). Fast alle dänischen Verlage beteiligten sich mit Unterstützung des Kopenhagener Kulturministeriums am Gemeinschaftsstand der Erlanger Verlagsmesse. Comic-Kenner Anders Hjorth-Jorgensen und Walhalla- Schöpfer Peter Madsen erklärten, wie Dänemark wurde, was es heute ist: das Comic-Eldorado in Europa mit der höchsten Pro-Kopf-Comic- Konsum-Rate von allen.

Wer wollte, konnte sich darüber hinaus pausenlos mit Fachvorträgen, Filmbeiträgen, Podiumsdiskussionen über Markttrends, Rassismus im Comic, Kleinverlage oder den fehlenden guten Kindercomic informieren lassen. Immerhin, so lautete ein Fazit, droht dem deutschen Comic- Markt eine schwere Krise wie in Frankreich: Titelflut, horrende Preise und ein beinharter Verdrängungswettbewerb zwischen Carlsen und Ehapa/Feest zu Lasten nicht zuletzt der Kleinverlage wie der Edition Moderne, Edition Rossi Schreiber oder comicplus/luxor lassen da wenig Hoffnung. Der drohende „Bildersturm“ hat bereits bedrohliche Vorboten hervorgebracht: Ramschaktionen des Albenmarktführers Carlsen en masse beim Versand Zweitausendeins verderben dem Comic-Fachhandel gründlich das Geschäft.

Wenn es eine Chance gibt für Kleinverlage, so sinnierten die Teilnehmer der betreffenden Podiumsrunde, dann vielleicht in Eigenproduktionen: beispielhaft gelöst etwa im Falle Ronald Putzker (Glamour bei comicplus/luxor), Peter Puck (bei Heinzelmännchen), Malo Louarn (bei Boiselle & Löhmann). Aber schon zieht die jede Synthese von Kunst und Kommerz zunichte machende Pornowelle im Albencomic herauf: ablesbar an den Verlagstiteln der Kleinverlage (Black Kiss bei Comic Forum, Interesse? von Dany bei Boiselle-Löhmann, luxor- Reihe bei comicplus) — Vorspiel für den großen Kladderadatsch?

Der Trend zu immer gediegeneren Luxus- und Sammlereditionen zu Höchstpreisen („für unsere 2.500 besten Freunde“) verheißt ebenfalls Unheil für die Zukunft. Noch gilt, was Eckart Sackmann auf dem Stagnation als Ausweg?-Podium meinte: „Deutschland hat derzeit eine Comic-Vielfalt wie sonst nirgends auf der Welt.“ Kein Wunder, holt die verspätete Comic-Nation doch jetzt im schnellebigen Zeitraffer 20 verpaßte Jahre nach. Daß man in Amerika und England, woher der unsäglich anachronistische Begriff „comics“ stammt, jetzt von „graphic novels“ spricht, hat man hierzulande geflissentlich ignoriert.

Wie vielfältig und unübersichtlich der gesamtdeutsche Albenmarkt heute ist, mag der Reigen der Max- und-Moritz-Preise zeigen: Enzo Mattotti nahm für sein kubistisches Formen- und Farben-Psychologie- Drama Feuer (Edition Kunst der Comics) ebenso einen Preis entgegen wie Régis Loisel für die poetisch-pittoreske Märchenadaption des Peter Pan (Ehapa). Alpha heimste für Boucqs Die Pioniere des menschlichen Abenteuers (Alltagswahnsinn und Industriegesellschaft als hoffnungsloser Fall) das „Max-und-Moritz“-Brot ein. Und der Carlsen-Verlag erhielt für seine bibliophile „Klassikerbibliothek“ (Krazy Kat, Little Nemo, Polly and her Pals, herausgegeben von Rick Marshall) und die Jugendabenteuerserie Theodor Pussel von Frank LeGall je eine Auszeichnung. Statt der phänomenalen US-Anarcho-Strip-Zeichnerin Linda Barry (Ernie Peek's Comik) prämierte die Jury einen international altbewährten Zeitungscomic-Veteranen: Johnny Hart uind dessen spitzfindige Steinzeitserie Neander aus dem Tal (Original: B.C. — Before Christ). Zumindest die Entscheidung zugunsten der Klassikerbibliothek entbehrt nicht einer gewissen Pikanterie: wenn stimmt, was das Fachblatt 'Icom-Info‘ schreibt, daß nämlich genau diese Reihe eingestellt werden soll.

Augenfällig war in Erlangen 5 eine nie gekannte, geballte Präsenz der sonst so comicscheuen Medien: der gesamte Blätterwald, Rundfunkstationen und Fernsehsender gaben sich erstmals in diesem Umfang ein Stelldichein.

Erlangen 5 festigte mit dem diesjährigen Comic-Festival seinen Ruf als eines der wichtigsten europäischen Ereignisse dieser Art. Ob man 1994 das zehnjährige Jubiläum wird begehen können, muß die regierende Erlanger SPD-Stadtratsfraktion entscheiden. Schon meldet sich ein Internationaler Comic-Salon Hamburg als Rivale an, der im Mai 1993 stattfinden soll.