Kopfloses Hühnchen

■ Alan Sillitoe las in Potsdam seine skurrilen Geschichten

Kerzengerade, fast in militärischer Strenge, steht Alan Sillitoe, der Mann der 1959 Die Einsamkeit des Langstreckenläufers schrieb, in seinem Wohnzimmer. Verzeihung, im »Claudius-Haus« in Potsdam. Die beigen Übergardinen sind vor die weißen Tagesgardinen gezogen. Die Luft ist stickig, auch wenn sie caramelfarben ist. Die obligatorisch-grüne Wolldecke liegt formlos auf dem Tisch dieses öffentlichen Wohnzimmers. Die Laune ist im Keller.

Wäre da nicht dieser preußische Angelsachse. Der es schafft zu plaudern, ohne leutselig zu sein. »Wissen Sie«, erklärt er dem Publikum, »ich war lange sehr ungebildet. Bis zu meinem zehnten Lebensjahr habe ich kein Buch gelesen, nur Kino geguckt. Dann bekam ich ein Kalenderbuch in die Finger: Jeder Tag wurde mit dem Geburtstag eines Literaten gefeiert. Das imponierte mir.« Bis Sillitoe selbst zum Schriftsteller von Weltruhm wurde, sollte es — naturgemäß — noch ein Weilchen dauern. Er fliegt zweimal durch das Abschlußexamen der grammar school. Das Stipendium für die weitergehende Schule wollte Alan unbedingt haben, um Französisch zu lernen. Er zählte zu jener Zeit immerhin fließend »un, deux, trois, ... dix!«)

Das eigentlich literarische Malheur datiert allerdings aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Sillitoe ist zwölf Jahre alt. Seine älteren Cousins werden einberufen und in den Krieg abkommandiert. Nach wenigen Wochen sitzen sie auf einmal bei Sillitoes in Nottingham am Frühstückstisch. Nach Jam und Baked- beans verbarrikadieren sie sich in ihren Zimmern und verbrennen die Uniformen. Alan beobachtet die Szene mit Interesse: Immer wenn es dunkel geworden ist, ziehen die wilden Cousins Richtung Stadt los und tun etwas, was sie »Night-work« nennen... Der kleine Sillitoe — ganz der Chronist — notiert in sein Notizbuch: »Mittwoch, zwei Autoreifen, ein Vogelbauer, vier Ringe«, dazu Name und Anschrift der beraubten Personen. »Tja, und eines Tages«, fährt er schelmisch fort, »fragte ich sie, ob sie mir nicht eine Schreibmaschine besorgen könnten. Denn in dem Buch How to become a famous Wrighter stand ausdrücklich, unverzichtbare Voraussetzung zum erfolgreichen Schreiben sei eine Schreibmaschine. Ich versprach meinen Cousins, als Dank, nur über ihre Abenteuer zu schreiben.«

Eines Tages kommt Mrs. Sillitoe dahinter. Sie will wissen, warum ihr zwölfjähriger Sohn fest entschlossen sei, die ganze Familie samt den desertierten Cousins ins Gefängnis zu bringen. Sie verbrennt Alans erste literarische Ergüsse im Kaminfeuer. Heute, sagt Sillitoe, sei er seiner Mutter dankbar. Wer ein guter Literat werden wolle, dem dürfe man keine Dummheiten durchgehen lassen.

Mit 21 Jahren versucht er es ein zweites Mal: Er hatte gerade drei Jahre lang für die Royal Air Force in Hinterindien gekämpft, 1949 wird er mit Tuberkulose nach Wiltshire ins Krankenhaus gebracht. Dort faßt er — so die Legende — den ernsthaften Beschluß, mit dem Schreiben anzufangen. Nachdem er sechs oder sieben unveröffentlichte Romane in die Schreibtischschublade gelegt hat, gelingt ihm der erste Erfolg. Die Einsamkeit des Langstreckenläufers verschafft ihm über Nacht Weltruhm und ein Prädikat, das er bis heute nicht losgeworden ist: Working- Class-Wrighter. Ob ihn diese Bezeichnung schmerze, will ein junger Mann aus dem Publikum wissen. »Nein«, sagt Sillitoe schlicht und ohne schiefes Lächeln. »Ich mag die Geschichte immer noch sehr gern. Als ich das Buch meinem Vater — der weder lesen noch schreiben konnte — in die Hände drückte, sagte der: ‘Junge, du wirst nie wieder arbeiten müssen!‚ Er sollte recht behalten.«

Heute ist Sillitoe, der in Frankreich und Spanien gelebt hat, in mehr als zwölf Sprachen übersetzt. (Mit der Einschränkung vielleicht, daß in der russischen Transskription 200 politische oder obszöne Seiten unterschlagen sind.) Wer auch sein Buch Der Mann, der Geschichten erzählte gelesen hat, weiß, wie feinsinnig und geistreich diese schlichten Kurzgeschichten montiert sind. Die Kostproben, die Sillitoe in Potsdam zum besten gibt, verraten einiges von dem lakonischen Gleichmut, mit dem ein Autor über die Katastrophen des Alltags berichtet. Die Lesung ist eigentlich schon zu Ende, als Sillitoe seine Hühnchen-Geschichte auspackt: Ein Hühnchen rennt, der abgeschlagene Kopf liegt auf dem Schnittbrett, stundenlang durch die Küche, hysterisiert erst und paralysiert dann alle Anwesenden. Zuletzt bleibt es sang- und klanglos in der Salatschüssel liegen... Literatur, angesiedelt zwischen John Osborne, Robert Graves.

Auf dem Weg durch die Vororte zurück in die Stadt, schreien die Fans »Sieg heil!« und treten gegen die U-Bahn-Sitze, weil das deutsche Team an dem Abend, an dem Sillitoe liest, die Europameisterschaft verloren hat. Mirjam Schaub