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Mitterrands private Intervention

■ Kaum hatten sich die in Lissabon versammelten Staats- und Regierungschefs der EG auf eine gemeinsame Position zum Krieg in Bosnien geeinigt, da reiste Frankreichs Präsident Mitterrand "spontan" ins...

Mitterrands private Intervention Kaum hatten sich die in Lissabon versammelten Staats- und Regierungschefs der EG auf eine gemeinsame Position zum Krieg in Bosnien geeinigt, da reiste Frankreichs Präsident Mitterrand „spontan“ ins belagerte Sarajevo, um „physisch“ Solidarität zu bekunden. Eine Intervention wird von EG-Seite nicht mehr ausgeschlossen.

Der alte Fuchs Mitterrand stahl wieder einmal allen die Schau. Die Staats- und Regierungschefs der EG- Länder hatten gerade ihr zähes Ringen um eine gemeinsame Position zu dem Krieg in Ex-Jugoslawien abgeschlossen und sich erstmals auf die Drohung mit einer internationalen militärischen Intervention geeinigt, da rückte der französische Staatspräsident mit einer Sensation heraus, die alle anderen Nachrichten aus Lissabon in den Schatten rückte. Ganz „spontan“ werde er nach Sarajevo fliegen, kündigte der 75jährige an. Er wolle der Welt die Augen für das Leid der 300.000 EinwohnerInnen der seit drei Monaten umkämpften bosnischen Hauptstadt öffnen, sagte er. Und er wolle alles tun, damit der Flughafen für Hilfssendungen geöffnet werde.

Noch am Samstag abend reiste Mitterrand von Lissabon zum Balkan. Aus Sicherheitsgründen — die Landebahn in Sarajevo lag völlig im Dunkeln — landeten die Piloten in dem 160 Kilometer entfernten Split. Gestern morgen brachte ein Hubschrauber den französischen Staatschef in das weiterhin umkämpfte Sarajevo. UNO-Truppen geleiteten ihn zu einem Gespräch mit dem Präsidenten Bosnien-Herzegowinas, Alija Izetbegović, in dessen teilweise zerstörtem Amtssitz. Während des Treffens schlugen mehrere Granaten in der Nähe ein. Später wollte Mitterrand der Bevölkerung „physisch seine Solidarität demonstrieren“. Schützenhilfe erhielt er von den französischen SozialistInnen. Die Initiative sei die „letzte Chance“, sagte ein Führungsmitglied der Partei. „Danach“ habe die Staatengemeinschaft gar „keine andere Wahl mehr — außer Gewalt“. In Lissabon und Washington hinterließ Mitterrands Alleingang verblüffte Gesichter. Offensichtlich hatte er nur wenige PolitikerInnen in seine Pläne eingeweiht. Selbst der portugiesische EG-Ratspräsident erfuhr „aus Sicherheitsgründen“ nichts Genaues. Außenminister Joao de Deus Pinheiro kommentierte nach Mitterrands Aufbruch: „Alle Reisen in humanitären Fragen sind willkommen.“

Lösungen auch ohne Anleitung der USA

Inspiriert war die „spontane“ Aktion von dem französischen Philosophen Bernard-Henri Levy, der den Staatschef seit einer Woche bekniet hatte, ein Zeichen zu setzen. Gesundheits- und Menschenrechtsminister Bernard Kouchner, der sich ebenso wie Levy in den vergangenen Wochen in Sarajevo aufgehalten hat, soll ähnliches verlangt haben.

Schon früher hatte Mitterrand mit unerwarteten Reisen von sich reden gemacht. So flog er im Oktober 1983 nach Beirut, um einen Tag nach dem Mord an 58 französischen Soldaten im Libanon eine harte Bestrafung der Täter anzukündigen. Auf dem Höhepunkt des Drogenkrieges jettete er nach Kolumbien, um den bedrängten Präsidenten Barco zu treffen.

Mit seinem Sarajevo-Besuch setzt Mitterrand gleich mehrere Zeichen. Er macht deutlich, daß Frankreich seinen Führungsanspruch in Europa nicht aufgeben will, daß sein Land nunmehr eine eigene Position zu Ex- Jugoslawien entwickelt hat und daß Europa auch ohne Anleitung der USA in der Lage ist, Lösungen für seine Konflikte zu suchen. Innenpolitisch dürfte die spektakuläre Mission den SozialistInnen kurz vor dem Referendum über die Maastrichter Verträge und ein knappes Jahr vor den Parlamentswahlen den Rücken stärken. Sorgfältig überlegt war auch das Datum für den Besuch: Auf den Tag genau 78 Jahre zuvor war in Sarajevo der österreichische Tronfolger ermordet worden, was Anlaß für den Ersten Weltkrieg wurde.

Bei den Gesprächen im Zwölferkreis in Lissabon hatte Mitterrand erklärt, daß Frankreich ein bewaffnetes Eingreifen möglicherweise für nötig hält. Neben Frankreich sprachen sich vor allem Italien, die Bundesrepublik, Belgien und die Niederlande dafür aus, humanitäre Lieferungen mit militärischen Mitteln in das Kriegsgebiet zu bringen. Die Westeuropäische Union (WEU), der neun EG-Mitgliedsländer angehören, bereitet den Einsatz offenbar bereits vor. Bei einem WEU-Treffen in London erklärten am Freitag hohe Beamte, bis Anfang Juli sollten die „erforderlichen Mittel“ für eine Seeblockade gegen die „Bundesrepublik Jugoslawien“ untersucht werden. Skepsis äußerte Großbritannien. Mehrfach wies die britische Regierung ihre EG-KollegInnen auf die Gefahr hin, selbst in das Kriegsgeschehen hineingerissen zu werden, wie das Beispiel Nordirland zeige.

Nach einem Jahr erfolgloser EG- Jugoslawien-Diplomatie setzten sich in Lissabon die Interventionisten durch: Sollte verstärkter Druck auf die serbische Führung nichts bringen, wird die EG den Weltsicherheitsrat auffordern, „unverzüglich die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen“, um die Öffnung des Flughafens Sarajevo zu ermöglichen, heißt es in dem Kommuniqué.

Heute um 14.00 Uhr MEZ wird sich zeigen, wie die nächste Stufe des internationalen Konfliktes heißt. Dann läuft ein Ultimatum ab, das UN-Generalsekretär Butros Ghali den um Sarajevo kämpfenden Serben gestellt hat. Wenn sie bis dahin nicht ihre Panzer vom Flughafen abgezogen haben, „gibt es nur noch sehr wenige Möglichkeiten“, hat der Chef der UN-Friedenstruppen (UNPROFOR) in Ex-Jugoslawien, General Lewis Mackenzie, bereits düster prophezeit. Dorothea Hahn

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