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FRAKTALE ERLEUCHTUNG: LICHTENBERG Von Mathias Bröckers

Wer jetzt kein Urlaubsbuch hat, kauft sich keines mehr — deshalb schnellstens noch Georg Christoph Lichtenbergs „Sudelbücher“ besorgen! Nicht weil der Physiker und Philosoph morgen Geburtstag hat, sondern weil es schlicht eine Schande ist, daß die gesammelten Aphorismen, Epigramme, Notizen und Fragmente immer noch als eine Art Geheimtip gelten, statt auf der ewigen Bestsellerliste deutscher Literatur ganz oben zu stehen. Denn es gibt im letzten Vierteljahrtausend keinen Autor, der mit so kurzen und klaren Worten so viel tiefen Geist und noch viel tieferen Witz versprüht hat wie dieser kleine Göttinger Professor. Und es gibt kein Buch, dessen Preis/Leistungsverhältnis (683 Seiten — 16 Mark) mit diesen fraktalen Notizen auch nur ansatzweise konkurrieren könnte: Auf einer Seite liefert Lichtenberg mehr Ideen, mehr Anregungen, mehr Denk-Stoff als die meisten Prosa-Autoren mit ihrer Gesamtausgabe. Von der auf dem Insel-Taschenbuch abgedruckten Empfehlung von Karl Kraus — „Lichtenberg gräbt tiefer als irgendeiner... Er redet unter der Erde. Nur wer selbst tief gräbt, hört ihn.“ — möge sich niemand abschrecken lassen. Auch Dünnbrettbohrer wie du und ich können ihn verstehen, etwa wenn er über die Dichter unserer Tage meint: „Drei Pointen und eine Lüge machen heutzutage schon einen Schriftsteller“; oder über Pappnasen vom Kaliber Reich-Ranicki: „Wenn er eine Rezension verfertigt, habe ich mir sagen lassen, soll er allemal die heftigsten Erektionen haben.“ Nicht nur seine Polemiken gegen das dröhnende „Gezwitscher“ von Literaten und Gelehrten sind nach wie vor höchst aktuell — es gibt nichts, für das sich Lichtenberg nicht interessiert hätte: für gelehrte Phraseologie hatte er ebenso Ohren wie für die Schimpfworte auf dem Marktplatz, Trink-Sitten und Balz-Gewohnheiten beobachtete er so genau wie astronomische Konstellationen, und ob über Mathematik oder Mystik, Marotten des Alltags oder ewige Philosophie — Lichtenberg spekuliert über seine Beobachtungen mit einem Spürsinn, dessen geniale Treffsicherheit sich erst heute ganz erschließt. Die von der Quantenphysik bewiesene Wechselwirkung von Beobachter und Beobachtetem ist bei Lichtenberg ebenso vorweggedacht („Wohin wir sehen, so sehen wir bloß uns“) wie etwa die von James Lovelock unlängst wiederentdeckte Theorie der Erde als Super-Organismus („Unsere Erde ist vielleicht ein Weibchen“) — nur zwei von Dutzenden möglichen Beispielen für die Luzidität dieses selbstdenkenden Naturforschers. Lichtenberg hat keine „Schule“, keine „Lehre“, keine „Theorie“ hinterlassen, er galt und gilt als Satiriker oder Humorist, also eine Etage unterm Pantheon der Schwer- und Meisterdenker — und doch erfährt man in den Details seiner Fragmente mehr über den Menschen, jene „Bastardbrut vom Affen und einem höheren Wesen“, als in den Groß-Systemen der Anthropologie, Psychologie und Gesellschaftslehre. Meine Ausgabe der „Sudelbücher“ wimmelt vor Anstreichungen wie sonst kaum ein Buch — und ein Zitat ist bedenkenswerter, komischer, wahrer als das nächste. „Schwätzt doch nicht. Was wollt ihr denn? Wenn nicht einmal die Fixsterne fix sind, wie könnt ihr denn sagen, daß alles Wahre wahr ist?“ Es ist gleich, auf welchen Punkt man das holographische Hirn dieses buckligen Männleins bringt, in jedem Teilchen funkelt die Offenheit des Ganzen.

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