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Überleben in der havarierten Sauna

■ Durch die Hitzewelle droht Deutschland die akute Zersetzung seines Wertesystems

Am deutlichsten spüren es augenblicklich all jene, die in den letzten Wochen und Monaten gar nicht in Berlin waren. Freunde, die ihren Jahresurlaub aus hautcolorativen Sicherheitsgründen schon frühzeitig in Andalusien, der Toskana oder in Griechenland verbracht hatten, wurden bei ihrer Rückkehr von einem Klima überrascht, mit dem sie kaum fertig werden. Schließlich reisten sie aus meist wochenlanger feuchter Not und Kälte entnervt zurück — in den nordischen Dürregürtel.

In Deutschlands Hauptstadt vermag kaum noch jemand zu sagen, wann genau das letzte Mal ein frischer Stadtregen den staubigen Betongiganten erquickte. Das muß Monate her sein. Mittags das Haus zu verlassen, kommt mittlerweile dem Versuch gleich, eine havarierte Sauna von innen reparieren zu wollen. Doch schon der morgendliche Weg zur Arbeitsstätte ist für viele demotivierend. Überall im Schatten der Bäume und Mauervorsprünge stehen müde Menschen und begaffen aus durstigen Augen resigniert den verdorrten Himmel über der Stadt. Stöhnen, raunendes Flehen nach „wenigstens einem kleinen Sprühregen“, monoton wiederholte Stoßgebete um ein „reinigendes Gewitter“ entringen sich ihren Kehlen. Vorboten künftig auch in diesen Breiten akzeptierter Regenmacherei?

Tout Berläng ist wie in Trance! Und allzu viele sind ohnehin nicht mehr zu sehen. Auch telefonisch ist kaum noch jemand zu erreichen. Der Berliner hält sich vorzugsweise in Badewannen, unter Duschen, in Schwimmbädern und Seen, Kneipen oder abgedunkelten Zimmern auf. Tagsüber jedenfalls! Erst abends erinnert das rege öffentliche Treiben an längst vergangene Urlaubszeiten in Athen, Bologna oder Sevilla, als jung und alt mit hereinbrechender Dämmerung noch in Gassen und auf Plätze schlurften, um einen Hauch frischen Nachtwindes zu erhaschen.

Doch mit dem knallharten Klimaumschwung, der sich schon letztes Jahr ankündigte, droht Deutschland eine Gefahr, die noch gar nicht richtig eingeschätzt werden kann. Denn Berlin ist nicht irgendein Kaff, sondern als Capitale des Staates der Emsigen und Ordentlichen das Zentrum der deutschen Seele. Und die ist — zumindest in ihrer höchstentwickelten Ausdrucksform, der preußischen Variante — akut gefährdet. Wo einst Pünktlichkeit und Ordnung herrschten, finden wir seit Monaten schon tropischen Schlendrian, aus zuverlässig sekundärtugendhaften Mitarbeitern wurden unseriöse Hallodris mit Trägheits-Drall und Hang zu Hypochondrie. „Hasse ma 'n Bakschisch“ ist jetzt immer öfter zu hören — kurz: Der Zersetzungsprozeß preußischer Gemüter schreitet so rapide voran, wie die physischen Hüllen ihrer sonst stets bleichen Besitzer verbrennen. Nur die türkischen Berliner freuen sich. Es ist ihr Klima. Ob sich Allah endlich gegen Petrus durchgesetzt hat? Philippe André

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