: Berliner Monopoly ohne Spielregeln: Regionales Horrorszenario
■ Der Sammelband »Die Stadt als Gabentisch« von Hans G Helms: Argumente gegen den Ausverkauf Berlins sind im Reclam-Verlag Leipzig erschienen
Was wird aus Berlin? In einem Interview zum ersten Jahrestag der Umzugsentscheidung des Bundestages beschrieb der Regierende Bürgermeister den Zustand der Stadt folgendermaßen: »In der Nacht vor der Eröffnung sieht es hinter den Mauern und in den Etagen eines Kaufhauses ziemlich chaotisch aus.« Die Stadt als Warenhaus und Dienstleistungszentrum — das ist auch unter Investoren und Stadtplanern die dominierende Leitvorstellung für die Zukunft Berlins. Soziale, ökologische, historische und kulturelle Aspekte hingegen spielen in der laufenden Diskussion nur noch eine untergeordnete Rolle.
Doch ehe sich die Glastüren in die metropolitane Zukunft öffnen — geräuschlos und auf Lichtzeichen, versteht sich — wird noch viel Wasser die Spree hinabfließen und viel Beton in den sumpfigen Berliner Baugrund. Das neue Berlin steht nicht, wie der Regierende vorspiegelt, kurz vor der Vollendung. Die Stadt befindet sich in der Phase der Abwicklung ihrer alten Strukturen, im Stadium des Räumungsverkaufs vor dem Umbau. Stadt und Treuhand verschleudern den kostbaren Boden der Innenstadt blockweise an internationale Immobilienfirmen. Während der wirtschaftliche Aufschwung noch auf sich warten läßt, entwerfen Architekten in ihrem Auftrag Spekulationsobjekte für die Zeit des Booms.
»Zwischen Alex und Ku'damm, Hauptbahnhof und Spreebogen (wird) eine trostlos homogene Stadt- in-der-Stadt aus dem Computer entstehen. Das träge Auge wird allerhand falsch historisierender Schnickschnack düpieren, wie ihn CAD-Programme willfährig aus ihren ‘finiten Elementen‚, den Grundelementen Zylinder, Kuben, Kegel oder Kugeln, montieren. Ein paar Gleitbewegungen mit der ‘mouse‚, und schon fügen sie sich zu veritablen, permutativen, sogenannten ‘postmodernen‚ Außenhäuten für die immergleichen Kapitalvermehrungsräume zusammen«, schreibt Hans G Helms, Herausgeber des bei Reclam/Leipzig erschienenen SammelbandesDie Stadt als Gabentisch in seiner Einleitung.
Die sogenannten »Dienstleistungszentren« und »Gewerbeparks« stehen für alle möglichen Nutzungen offen: Büros, Läden und andere Gewerbe sollen einziehen, und um den nächtlichen Wachschutz zu sparen, sind auch ein paar Kneipen, Kinos und Wohnungen vorgesehen. Wer die horrenden Mieten wird bezahlen können, ist völlig unklar. Es wird so getan, als müßte man nur genug Bruttogeschoßfläche produzieren, dann werde sich der Aufschwung schon einstellen. Die meisten Projekte dürften nach ihrer Fertigstellung so vor sich hindümpeln wie der Steglitzer Kreisel, das Ku'damm-Karree oder der Frankfurter Messeturm, der halbleer steht, weil es an solventen Mietern mangelt. Selbst das Daimler-Projekt am Potsdamer Platz ist in erster Linie ein spekulatives Immobiliengeschäft: Die Konzerntochter debis braucht nur einen Bruchteil der vorgesehenen Nutzfläche. Der Rest bringt Rendite.
Warum die alten Hochhaus- und Passagenkonzepte, vielerorts gescheitert, im neuen Berlin aber funktionieren sollen, hat niemand erklärt. Es sei denn, man vertraut dem Sog, der die internationale Geschäftswelt in die City zieht, und nimmt die Vertreibung der angestammten Bevölkerung billigend in Kauf. Ob diese Rechnung aufgeht, ist mehr als fraglich. Eine vom Wirtschaftssenator eingesetzte Fachkommission hat im Juni einen Bericht vorgelegt, in dem es heißt, eine Entwicklung Berlins zur »europäischen Dienstleistungsmetropole« sei zur Zeit nicht in Sicht. Es handele sich allenfalls um eine langfristige Option, die nicht Ziel der gegenwärtigen Politik sein könne.
Eigentlich müßte sich die Bevölkerung gegen den Ausverkauf an die internationale Immobilienmafia wehren, so wie seinerzeit die mutige Narva-Belegschaft. Statt dessen macht sich Resignation breit: viele reden vom Wegziehen, wenige von Widerstand. Ein Grund ist die Informationspolitik von Senat und Treuhand. Deren Verhandlungen mit Terraingesellschaften und Developpers gehören zu den bestgehüteten Geheimnissen. Über die Zukunft des öffentlichen Lebensraumes wird unter Ausschluß der Öffentlichkeit entschieden. Wenn alles zu spät ist, gibt die schlafmützige Berliner Presse die optimistischen Prognosen der Investoren bekannt. Nachgeprüft wird so gut wie nie.
Die Schönrednerei von Politikern, Planern, Architekten, Investoren, die alle am Spekulationsprofit interessiert sind, vernebelt, nach welchen Regeln das Berliner Monopoly gespielt wird. Da ist man froh, wenn man einmal ein Buch in die Hand bekommt, das die Strategien zum Umbau Berlins profund und kritisch unter die Lupe nimmt. Die Stadt als Gabentisch versammelt auf fast sechshundert Seiten Beobachtungen amerikanischer, west- und ostdeutscher Urbanisten zur aktuellen Stadtentwicklung. Das Nebeneinander von Ost- und West-Perspektiven macht das Buch zu einer aufregenden Lektüre.
Berichte über Bodenspekulation und soziale Verdrängung in amerikanischen und westeuropäischen Städten geben einen Vorgeschmack darauf, was Berlin bevorsteht, wenn es nach dem Willen der Spekulanten aus aller Herren Länder geht. Auf dieser Grundlage entwirft der Herausgeber ein Horrorszenario für die Region Berlin: In der alten Mitte säßen demnach bald die Schaltzentralen der großen Konzerne, die von hier aus die Eroberung der osteuropäischen Märkte dirigieren. Deren leitende Angestellte werden sich allein wegen der Verkehrsmisere möglichst nah am neuen Macht- und Vergnügungszentrum ansiedeln. Außerhalb entstehen Wohnquartiere für die Massen, großflächige, computervernetzte Verwaltungsdependancen, Technologie- und Gewerbeparks. Ein wildwucherndes Stadtwachstum droht, die Entwicklung Berlins zu einer amorphen Agglomeration mit noblem Glitzerkern wie Houston in Texas. Davon werden auch die weiter abliegenden Gemeinden Ostdeutschlands betroffen sein. Bereits jetzt werden dort die neuen Industriestandorte geschaffen, die von Berlin aus gesteuert werden sollen.
Die Stadt als Gabentisch skizziert ohne interessegeleitete Beschönigung die Umrisse des neuen Berlins — eines Großraums, der vom internationalen Kapital total umgekrempelt werden wird, wenn die jetzigen Bewohner ihre Interessen nicht zur Geltung bringen. Das nützliche Handbuch erscheint gerade zur rechten Zeit. Denn was aus Berlin werden wird, ist ganz offen — noch. Michael Bienert
Hans G Helms (Hrsg): Die Stadt als Gabentisch , Reclam-Verlag, Leipzig 1992, 586 Seiten, 24 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen