Mit unaufdringlicher Bravour

■ „Die Brut der schönen Seele“, ARD, Mittwoch, 20.15 Uhr

Lauter Gesichter, die von westlichen Fernsehserien und Tatorten noch nicht verbraucht sind. Eine Regie, die sich auf unterkühlt trostloses, atmosphärisch glaubwürdiges Inszenieren versteht. Ein Drehbuch, das sich gefährlich auf Messers Schneide bewegt mit einem Thema, dessen Brisanz ein Höchstmaß an Sensibilität verlangt: Vom ORB kommt dieser „Sommertheater“-Krimi, in dem ein 13jähriges Mädchen von einem Dreißigjährigen „mißbraucht“ wird und sich weigert, ihn zu verraten. Nicht, weil sie sich vor seiner Rache fürchtet, sondern weil sie in ihn verliebt ist.

Was für ein Wagnis, eine so komplizierte, so gegen jegliches populäre Täter-Opfer-Schema angelegte Geschichte zu inszenieren, sie dennoch aus der Gefahrenzone herauszuhalten, in der das Mißverständnis lauert, hier würde suggeriert, daß eine solche „Liebe“ verständlich wäre. Und mit welcher Bravour ist das gelungen, mit einer unaufdringlichen Bravour, die einem den Atem stocken läßt. Denn alle sind Opfer in diesem Fernsehspiel: der Mann, der sich in einen Rollstuhl flüchtet, damit er sich dem Mädchen als mitleiderregender Behinderter nähern kann (der erste und eigentliche Mißbrauch, den er sich zuschulden kommen läßt); das Mädchen, vereinsamt, süß und arglos, das nach Zuwendung hungert, weil ihre Schauspieler-Eltern nur mit sich selbst beschäftigt sind; die Kommissarin, verbraucht von ihrer Arbeit und auf der Vorstufe zur alten Jungfer, die mit ihrem eigenen Sexualneid zu kämpfen hat.

Lang vor dem „sexuellen Mißbrauch“ schon herrscht hier ein Klima, in dem sich keiner dem anderen anvertrauen kann, ein Klima, das in diesem Fernsehspiel mit beispielhaft prägnanter Knappheit entworfen wird. Jede Person tritt mit einem Minimum an Worten oder Szenen aus ihrer Trostlosigkeit heraus — und fällt am Ende in sie zurück. „Was machen Sie so, wenn Sie allein sind?“ fragt die Kommissarin. „Was alle machen. Nichts“, erwidert der echte Rollstuhlfahrer, den sie zunächst verdächtigt und damit in den Selbstmord treibt. Und Antje, die 13jährige, schützt zwar den Mann, der sie „mißbraucht“, aber sie fällt ihrer Mutter weinend um den Hals, bestreitet vehement, daß sie ihn mag. Und beides stimmt. So, wie es stimmt, daß dieser Mann in seinem Rollstuhl ein Schwächling ist, der mit perversem Mittel sich Zuneigung erschleicht, und trotzdem eine Zärtlichkeit empfindet, die sich nur in der Deformiertheit zeigen kann. Es ist eben alles ein wenig komplizierter, als es das Täter-Opfer-Denken gerne hätte.

Daß diese Kompliziertheit sichtbar wurde, haben wir denen zu verdanken, die sich ihre ästhetischen Besonderheiten nicht nehmen lassen. Sybille Simon-Zülch