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The spirit makes you move

■ Zum vierten Mal Love-Parade in Berlin: Tausende zogen am Samstag nachmittag bei dröhnendem Techno und House über den Ku'damm

Charlottenburg. »Für was sind die bloß?« fragt sich staunend ein älteres Ehepaar aus Kaulsdorf, als sie den lärmenden Zug an sich vorüberziehen lassen. »Das muß eine Sekte sein«, sagt er nach einer Denkpause. Rund 7.000 Techno- und House-Musikfans verwandeln am Samstag nachmittag den Kurfürstendamm in die größte Tanzfläche der Welt. Die Love-Parade zog mit rund 25 umfunktionierten Lastern, von denen »die seligmachende Musik« dröhnte, vom Wittenberg- zum Adenauerplatz und wieder zurück. Diskjockeys aus dem ganzen Bundesgebiet geben mehr als vier Stunden lang ihre Kunst zum besten. Sich ständig wiederholende Rhythmussequenzen und tiefe Baßfrequenzen sollen in einen ekstatischen und trance-ähnlichen Zustand versetzen. Wie die Derwische tanzen die Fans auf und neben den Lastern. Zur Love- Parade, die zum vierten Mal stattfand, kamen sie aus europäischen Metropolen und mehr als dreißig deutschen Städten, in den USA wurden Flugzeuge nach Berlin gechartert. Die Organisatoren nennen sich vielsagend »Space Agency« und bestehen aus einigen Diskjockeys sowie Leuten aus der Berliner Nachtclubszene. Unter dem Motto »Friede, Freude, Eierkuchen« fand die erste Parade 1989 noch im kleinen Freundeskreis statt.

Ein Trillerpfeifenkonzert erhebt sich, als es kurz nach 16 Uhr losgeht. Auf den Lastwagen arbeiten sie auf Taille, mit rudernden Armen feuern sie die Tanzenden auf der Straße an. »The spirit makes you move« heißt das Motto der Love-Parade 1992. Trillerpfeifen, Sonnenbrillen und ein Grinsen im Gesicht gehören dabei zu den schlichteren Accessoires. Einige sind mit Gasmasken oder Schweißerbrillen bewaffnet. Einer nimmt auf Rollschuhen sein Bad in der Menge, ein anderer läßt seinen pinkfarbenen Slip bewundern, und wenn es ihm reicht, zeigt er den blanken, braungebrannten Hintern. Oder will er vielleicht nur den zeigen?

Die Fotografen haben leichtes Spiel. Jede und jeder läßt sich bereitwillig ablichten. Auf Wunsch steigen auserkorene Mädchen von den Lastern herab. Sie posen ungeniert, genießen das Publikum drumherum und können dann sogar stillhalten. Für Erfrischung sorgen riesige Wasserpistolen in schrillen Neonfarben. Die Menge reißt sich darum, getroffen zu werden.

Als die Schaukästen des Ku'damms und ein Baugerüst kurzerhand zu Tanzpodesten erklärt werden, erklingt wilder Jubel von den Wagen. Und auch der, der im knallengen schwarzen Body verzweifelt versucht, einen Laternenmast zu erklimmen, erhält seinen Beifall. Geld wird natürlich auch verdient. Die T- Shirts waren schlicht, die Preise nicht: zwischen 30 und 90 Mark mußten hingeblättert werden.

Nicht alle Zuschauer reagieren so konsterniert wie das Ehepaar aus Kaulsdorf. Ein sechzigjähriger Amerikaner hält die Parade für eine Vorstellung des »größten Zirkus der Welt«. Sein um dreißig Jahre jüngerer Begleiter findet alles »very wonderful« und will nur wissen, wo heute abend die Party steigt. Einem Geschäftsmann aus München gefällt die Musik, seine vierzehnjährige Tochter will aber lieber am Straßenrand auf Distanz bleiben.

Kurz bevor die Parade wieder den Wittenbergplatz erreicht, kommt der lang ersehnte Regen über Berlin. Ein paar flüchten, aber der harte Kern beantwortet jeden Donner des Gewitters mit Gejohle. Offensichtlich fühlen sich die, die man sonst nur nachts in einschlägigen Clubs so lasziv zu Gesicht bekommt, auch tagsüber pudelwohl, zumindest bei der Love-Parade. Ken Kesey und die Merry Pranksters, die Tom Wolfe Ende der sechziger Jahre in Unter Strom verewigte, hätten sich ins Fäustchen gelacht. Ralf Knüfer

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