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Dornröschen im bräutlichen Kuß

■ Jubiläumsfeier — Ein Symposion unter der Leitung von Frithjof Hager und Erhard Stölting zu Ehren des hundertsten Geburtstags von Walter Benjamin im Berliner Literaturhaus

Was zu denken heute nötig ist«. Das soll ein vollständiger Satz sein? Der Satz stammt vom Berliner Soziologen Dietmar Kamper. Der sagt ihn leise und nachdem er eine Stunde lang über einen Mann gesprochen hat, der am 15. Juli hundert Jahre alt geworden wäre: Walter Benjamin.

Die meisten kennen wohl Benjamins Buch Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936), drei Essays zum Stellenwert der neuen Medien Fotografie und Film, die nicht nur Teil einer künstlerischen Avantgarde, sondern auch Handlanger der ästhetisierten, faschistischen Politik sind.

Das Symposion, das sich im Berliner Literaturhaus mit einer Reihe von Vorträgen unter der Leitung von Frithjof Hager und Erhard Stölting Walter Benjamin widmet, fängt »von vorne« an: mit Dietmar Kamper als Professor und Benjamin als Student... Die ZuschauerInnen, von Hitze oder Gewitter gänzlich unbeeindruckt, lauschen Kamper schließlich so inniglich, daß sie zu diskutieren vergessen. Warum die heutigen StudentInnen nicht im Traum daran dächten, ihre Professores zu überbieten, scheint die anwesenden Alt-68er nicht sonderlich umzutreiben. Immer diese notorisch marode Universität! Vielleicht wollte Benjamin mit seiner Habilschrift über das »Deutsche Barocktrauerspiel« beim Horkheimer-Lehrer Cornelius an der akademischen Laufbahn scheitern, mutmaßt ein gelehrter Zuschauer, hatte doch schon der Philosoph Norbert Bolz verschmitzt angemerkt: »Reinen Geist kann man nicht habilitieren.« Kamper entgegnet, was Benjamin damals Gershom Scholem schrieb: »Im bräutlichen Kuß wird Dornröschen zubeißen. Schließlich ist es nicht durch den Kuß seines Prinzen, sondern die lange fällige Ohrfeige des Kochs erwacht. Im stillen Kämmerlein hatte es versucht, sich einen Professorentalar zu weben.«

Was zu denken heute nötig ist ... zeigt auf diesem gutgelungenen Symposion schließlich am plakativsten (vielleicht weil Friedrich Diekmann verhindert war) Michael Makroupulos, der ein bißchen »propädeutisch« Benjamins Modernitätskonzept vorstellt.

Ausgehend von einem 46 Seiten schmalen Benjamin-Aufsatz zu Baudelaire, erklärte er, warum »Erfahrung im strikten Sinn, als kohärente, kontinuierliche, singuläre und sinnstiftende Qualität, in der Moderne vom Ereignis überlagert wird, das inkohärent, schockförmig und austauschbar ist«. Warum die Wirklichkeit der Großstadt die Wahrnehmung zur Beschleunigung nötigt, das Denken fiktionalisiert, den Lebensrhythmus intensiviert. Die Simultaneität und Disparatheit des Geschehens erlaubt als darstellende Form allenfalls die »kommentierende Interpretation«, Zitatmontage, Stottern — wie es Benjamins »Passagen-Werk« beweist. Der Erwartungshorizont des Einzelnen wird durch keine Erfahrung, keinen sinnfälligen Zusammenhang mehr gedeckt. Inmitten der Kontingenz bleibt dem Mensch, um mit Makroupulos Siegfried Kracauer zu zitieren, vielleicht ein »zögerndes Geöffnetsein«, vielleicht die Kunst, die nicht die Willkürlichkeit des glücklosen und sinnentwöhnten Subjekts in den infiniten Regreß treibt, sondern innehält.

Auf der rastlosen Jagd nach komplexen Sujets, spricht Manfred Voigts dann noch zu Benjamin und Erich Unger, Richard Faber zu Benjamins Sozialutopie und Erdmut Wizisla zum »Glücklosen Engel«. Mit einer Lesung von Originaltexten (mit Pukaß, Hager und Stölting) ging das Symposion am Samstag abend zu Ende.

Im Gedächtnis bleiben vielleicht ein paar der malerischen Dias, die Ingrid und Konrad Scheurmann am Vortag gezeigt haben: Felsen, schäumendes Meer und Himmel. Der spanische Grenzort Port Bou, am Rande des zwölf Kilometer langen Pyrenäenpasses, den Walter Benjamin in den letzten Septembertagen des Jahres 1940 überwunden haben muß, die NS-Schergen im Nacken. Paris, wo Benjamin seit 1933 gelebt hat, ist für den Juden Benjamin längst nicht mehr sicher genug, mit Mühe ist er gerade aus einem deutschen Internierungslager im kollaborierenden Teil Frankreichs geflohen. Die einzige Hoffnung, die bleibt, heißt USA. Max Horkheimer hat Benjamin in letzter Minute von New York aus das nötige Visum besorgt. Aber kaum hat Benjamin spanischen Boden erreicht, wird er, mangels Einreisepapieren, nach Frankreich zurückkommandiert. Einen Tag und eine Nacht bleibt Benjamin in Port Bou. Am 26./27. September nimmt er sich das Leben. In einem Massengrab auf dem katholischen Friedhof wird er — womöglich, um kein Aufsehen zu erregen und die mitreisenden Flüchtlinge nicht zu gefährden — als »ordentlicher Mann« beerdigt.

50 Jahre danach: So, als könnten die Deutschen Benjamins gewaltsamen Tod erst jetzt guten Gewissens für ihre Nachgeborenen offenhalten, beauftragt das Auswärtige Amt (AA) — angeregt von Richard von Weizsäcker — den israelischen Künstler Dani Karavan mit dem Bau einer Gedenkstätte, die schlicht und paradigmatisch zugleich für Benjamins Schicksal stehen soll: eine Treppe, zu beiden Seiten abgeschirmt, die steil den Felsen hinabführt, den Blick freilegend nur für das Meer. An ihrem Ende ein Satz Benjamins. Aufgezäumt zwischen Himmel und Meer, jeder Schritt einer ins Ungewisse, ohne Halt, kein Ziel.

»Sekt statt Selters« titelte die 'Bild‘-Zeitung gehässig und rückte die Stele der Gemeinde Port Bou ins Bild, die die veranschlagte eine Million »deutscher« Mark verschlungen hätte... Die Verleumdungskampagne war dem AA recht und billig, die geplante Gedenkstätte von heute auf morgen in der Versenkung verschwinden zu lassen, aus Kostengründen. Der Kommentar des Pressesprechers gegenüber einem Kulturmagazin: »Ein Projekt, das in gewissem Sinne nie existiert hat, kann auch nicht sterben.« NEIN, das muß es nicht. Mirjam Schaub

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