Platte, uralte Argumentation

■ betr.: "Wahnbildende Maßnahmen - Katharina Rutschkys Buch über sexuellen Kindesmißbrauch", taz vom 15.6.92

betr.: „Wahnbildende Maßnahmen — Katharina Rutschkys Buch über sexuellen Kindesmißbrauch“ von Christel Dormagen,

taz vom 15.6.92

Suggeriert wird in dem Artikel, endlich erhalten interessierte LeserInnen „redliche“ Aufklärung und Fakten über das Thema sexueller Mißbrauch. Das Gegenteil ist jedoch der Fall! Die Autorin des Artikels erweist sich als eindeutig tendenziös: sie mag keine engagierten Feministinnen; sie vermutet und unterstellt einen „bewußtlosen Wunsch“ nach Opferstatus und Nichtverantwortlichkeit.

In fachlich inkompetenter Weise schlägt sie undifferenziert um sich, vereinfacht und verharmlost sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Frauen. Schlicht gesagt: Es entsteht der Eindruck, daß sie sich mit der Komplexität des Themas und der Mißbrauchsdynamik nicht oder nur unzureichend beschäftigt hat. Gemeinsam mit der Buchautorin interessiert sie sich offensichtlich nicht so sehr für die von sexueller Gewalt betroffenen Mädchen und Frauen. Im Zentrum ihres Interesses stehen die HelferInnen, die angeblich „unehrenhafte“ Interessen vertreten. Welche? Die Täter und die Tat beim Namen zu nennen? Die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen? Mädchen zu stärken? Ihnen Hilfe und Schutz zu bieten?

Christel Dormagens Kritik bzw. versuchte Verunglimpfung der sogenannten feministischen Helferinnen wirkt arg konstruiert und bleibt platt in der Argumentation und ist zudem uralt: Feministinnen sind frustrierte, sexualfeindliche, hysterische, masochistische Weiber! Eben wahnbildend! Johanna Pitz, Wildwasser

Oldenburg

Christel Dormagens Rezension von Katharina Rutschkys Buch mit dem unsäglichen und irreführenden Titel Erregte Aufklärung ist nicht nur eine Anbiederung an die Autorin, die in ihrer realitätsverfälschenden Analyse auch noch als mutig dargestellt wird, sondern ist in ihrer zynischen Schreibweise ein Schlag ins Gesicht für alle Frauen, die sich auf unterschiedlichen Ebenen mit dem Thema „sexuelle Gewalt“ befassen.

Da werden ohne Bedenken Statistiken uminterpretiert, um das Ausmaß der sexuellen Gewalt herunterzuspielen, es werden die Versuche von Frauen, mit therapeutischer Hilfe die Folgen von sexueller Gewalt zu verarbeiten, lächerlich gemacht, es wird die alltägliche mühevolle Kleinarbeit von Sozialarbeiterinnen als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für den „Helferstand“ (... aus) der bürgerlichen Mittelklasse“ bezeichnet, und die real existierende sexuelle Gewalt gegen Mädchen wird als Phantasieprodukt von Feministinnen dargestellt.

Haarsträubend ist, daß in dem Artikel alle Versuche von überlebenden Frauen, in die Öffentlichkeit zu gehen und dabei Massenmedien zu nutzen, als unangemessene Überreaktion erscheint, während C. Dormagen ohne Skrupel das „Massenmedium“ taz nutzt, um ihre „Wahnbildenden Maßnahmen“ zur Verschleierung von gesellschaftlichen Machtverhältnissen zu verbreiten.

Damit sind wir nicht einverstanden!

Es geht nicht darum, einzelne Horrorszenarien als Abschreckungsbeispiele zu veröffentlichen, sondern darum, die strukturelle und tatsächliche Gewalt, der Frauen und Mädchen täglich ausgesetzt sind, in den Zusammenhang des patriarchalen Systems zu stellen.

Christel Dormagens Rezension leugnet diesen Zusammenhang und negiert die Wahrnehmung von Tausenden von überlebenden Frauen. Dies ist eine ungeheure Anmaßung und steht nicht im Einklang mit unserer Idee von verantwortungsvollem Journalismus. Theorie-Praxis-Seminar

„Sexuelle Gewalt gegen

Mädchen“, TU Berlin

[...] Unsere Empörung bezieht sich in diesem Fall nicht so sehr auf Rutschkys Buch, sondern auf die gefährliche Rhetorik Christel Dormagens, welche sie ohne Zweifel auch verdient. Sie zitiert (ohne Nennung) Texte von Plakaten des Kinderschutzbundes: „Ein Vater... bedrängt das Kind aus Liebe, er vergewaltigt seine eigene Tochter.“ Genau diese Wortwahl ist es, die Vergewaltigung aus Liebe, gegen die Überlebende und Frauenprojekte seit Jahren angehen.

Auch wenn Alice Miller überraschend Zeugin von sexuellem Mißbrauch wurde und ihre Tochter daraufhin zur Therapie schickt, besagt das überhaupt nichts über die Realität von Mütterverhalten. Allen Beratungsstellen, die zu diesem Thema arbeiten, dürfte hinreichend bekannt sein, wie äußerst selten sich eine Mutter dazu durchringt ihrer Tochter zu glauben, geschweige denn, schützend zu handeln. In diesem abfälligen Ton über Therapie zu sprechen ist äußerst gefährlich, auch wenn es dem Artikel den „Extrakick“ verleiht.

„Erschütterung macht mobil. Die Opfer und ihre medialen Fürsprecher ergreifen mutig und in bewegter Eintracht das Wort.“ Ohne Frage ist sexueller Mißbrauch in der Kindheit zum „Verkaufsschlager“ geworden. Von 'Bild‘ bis taz wird berichtet, entstellt, benutzt, was ursprünglich überhaupt nicht „in“ war. Für Überlebende, die vor dieser „Welle“ sexuellen Mißbrauch in der Kindheit öffentlich gemacht haben, sah es allerdings ganz anders aus. Sobald eine Überlebende ihren Mund nur aufmachte, wurde ihr auf der Berufsebene die fachliche Kompetenz abgesprochen, auf privater Ebene „Hilfe“ angeboten wie: nicht alle Männer sind sooo, du mußt nur den richtigen treffen. In der Öffentlichkeit als „Monster“ bestaunt und gleichzeitig totgeschwiegen. Noch heute ist es eine Ausnahme, wenn Referentinnen, Autorinnen, Filmerinnen etc. sich als Überlebende zu erkennen geben. Es wird meistens der „normalen“ Überlebenden überlassen, sich durch den Dschungel von Vorurteilen und Stigmatisierung zu schlagen, und so läuft es bis heute noch! Es bedurfte und bedarf immer noch wirklichen Mutes, sich als Überlebende öffentlich zu machen. Allein in dem Satz „sich als Opfer bekennen“, steckt eine ungemeine Diffamierung (als wenn frau sich zu einer Perversion bekennt). Wieder einmal konzentriert sich hier alles aufs „Opfer“, um die Täter zu schützen. Wo bleibt der Aufruf, die Täter zu ächten?

Es wird lediglich den Opfern vorgeworfen, daß sie sich vermarkten lassen. Öffentlichkeitsarbeit ist die Voraussetzung für gesellschaftlichen Veränderungen. Daß Meinungsbildung manipulierbar ist, und zu so manchem Zwecke sich mißbrauchen läßt, dürfte Zeitungsleserinnen nicht unbekannt sein.

Indem die Autorin alle Auswüchse der sexuellen „Mißbrauchsvermarktung“ wild durcheinanderwürfelt, um sie Überlebenden, Feministinnen und Frauenprojekten in die Schuhe zu schieben, schwimmt sie gleichermaßen auf der neuen Welle des: „Wir haben genug von diesem Thema, gibt es nicht endlich was Neues“? mit, denn es könnte sich ja herausstellen, daß wirlich jede Frau begreifen lernt, was sexuelle Unterdrückung bedeutet und welche Auswirkungen sie auf unser Leben hat. Das wäre allerdings gefährlich, denn: „Wut macht Mut!“ [...] Barbara Schmidt, Überlebende, Theaterpädagogin, Beraterin, Susanne Reichel, Überlebende, Beraterin, Kiel