: Ein Moped für Opinionleader
■ Frischgebackene Bremerhavener DesignberaterInnen legen Rechenschaftsbericht vor
Motorrad 19-a
mit
Doppelsitzbank
Entwurf MZ Trophy Classic, „neue Bescheidenheit für Gentlemen und Akademiker zwischen 35 und 55, leichtes Zweitfahrzeug mit Understatement“.
Die „MZ“: potthäßliches und stinkendes Aushängeschild der DDR-Motorradfabrikation, genannt „Sachsen-Harley“, im Westen das Anti-Motorrad schlechthin für Gesinnungsfahrer und Spezialästheten. Seit der Währungsunion versucht die Traditionsfabrik in Zschopau, durch technisches und optisches Annähern an „Westniveau“ der Pleite zu entgehen. „Falsch!“ sagen Mica Witt, Andreas Kudicke und Boris Dontscheff vom Design- Labor Bremerhaven: „Bloß keine me-too-Produkte!“ Nicht „die schnelle Spätausgabe nach deutsch-japanischen Gestaltungsgepflogenheiten“ ist Gebot der Stunde, sondern „das Sichtbarmachen des Vorhandenen“. Das neue alte Motorrad bedürfe einer „emotionalen Aufladung als konkretes Identifikationsangebot“.
Motorrad 19-b
mit 1 Sitz
Entwurf MZ Trans Erz: „dem Mythos vom Erzgebirgsräuber und Schmuggler verpflichtet, für Opinionleader, die Randgruppe, die den Ton angibt, genußvolle Askese, Kohle im Gesicht, bad and ugly, Bekennermotorrad“.
Von der neuen Unternehmensphilosophie bis zur Ausgestaltung des (mittlerweile konkurs gegangenen) Bremen Veranstaltungs- Zentrums Astoria, von einem Eierbecher für Verliebte bis zur Planung des Innenraums eines Gaffelschoners des Jugendkutterwerks: 20 junge Leute haben sich 18 Monate lang in eine Labor-Situation begeben und praktische Designforschung betrieben. Das Design-Labor Bremerhaven organisiert solche Fortbildungskurse im Auftrag des Bremer Berufs-Bildungs-Instituts (BBI); die Kosten tragen das Wirtschaftsressort, das Arbeitsamt und die EG (Sozialfonds). Jetzt liegen die (darstellbaren) Ergebnisse des ersten Kurses, der im Mai endete, als sorgfältig gemachter Katalog vor: Katalogdesign in eigener Sache.
Sie kommen aus der Informatik, dem Kfz-Design, der Mode, der Betriebswirtschaft, der bildenden Kunst, der Pädagogik. Ein neues Berufsbild schwebt ihnen vor: „SystemberaterIn für Produktgestaltung“. Und die Fortzubildenden können was vorzeigen: Die Textildesignerin Veronica Rodica Barnert hat in einem Workshop mit Designer Toshiyuki Kita ein Sitzmöbel aus Pappe gefaltet, wie wir als Kinder aus Papier „Himmel und Hölle“ falteten. Jan Petzold, Uwe Hillmann und Andreas Döll haben für das
Motorrad 19-c
mit
2 Sitzbänken
Entwurf MZ Transport: Nutzkrad, Einsatzfahrzeug, für Rauhbein oder Postbeamten ohne Minderwertigkeitskomplexe, für Ärzte, als Taxi, Behördenfahrzeug.
Mitmach-TV „Offener Kanal“ in Bremen Studioräume und Schnittplätze entworfen — incl. Möblierung: „Werkstattcharakter — offen, variabel, karg.“
Kontakte sind der halbe Umsatz: die hoffnungsvollen SystemberaterInnen haben gelernt, mit Kommunen und Betrieben (siehe MZ!) zusammenzuarbeiten und Vordenker des Fachs kennengelernt. Tim Becker ist so auf die Piazza virtuale des Van Gogh TV der Documenta gerutscht. Und vielleicht fährt bald durch Europa eine Eisenbahn voller europäischem Jugendaustausch: die „Jugend-Kultur-Bahn“ von Petra Denst, Iris Scherzer und Patric R. Nietzke.
„Man kann weder wissen, daß die Welt nicht so ist, wie sie sein soll, ohne zu wissen, daß sie veränderbar ist, noch kann man wissen, daß sie veränderbar ist, ohne zu wissen wie sie ist.“ Unsere frischgebackenen SystemberaterInnen setzen hoch an (beim Philosophen Flusser) und siedeln tief: „Wo ein Loch drin ist, braucht keins mehr reingebohrt zu werden“ (Stiletto Studios, Berlin). Und wollen überhaupt nicht mehr voneinander lassen: Die AbsolventInnen haben den Verband der Systemberater für Produktgestaltung Design-Labor Bremerhaven erfunden, zum Immer-wieder-Treffen sowie zur Pflege des jungen Berufsbildes. „Wir verstehen uns als Allrounder, die man sich aufgrund ihrer Qualifikation eigentlich gar nicht leisten kann. Forscher für Unternehmen, die nach neuen Wegen suchen.“ Der Verband fungiert schon mal als Herausgeber des Katalogs „Laborbericht“.
Große Gedanken zeitigen übrigens auch mal kleine Dinge: Im Design-Labor entstand Wolfgang Waeschs „Sicherheitsdesign für Nachtschwärmer“ — ein Leder- Armreif mit Reflektor, vornehmlich an üppig gewölbten nackten Männeroberarmen zu tragen. Für Opinionleader mit Kohle im Gesicht. Bus
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