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Erst kommt das Schreiben, dann die Moral

„Krieg ohne Schlacht“: Heiner Müller spricht seine Biographie  ■ Von Peter Laudenbach

Die Versicherung im Nachwort, bei diesem Buch handele es sich nicht um Literatur, wäre nicht nötig gewesen: Es ist kaum zu übersehen. Einige Freunde liefern Heiner Müller im Gespräch die Stichworte, und der Dramatiker erzählt vierhundert Seiten lang verstreute Erinnerungen, kleine Anekdoten und gelegentlich schon etwas abgestandene Witze; was dabei herauskommt, ist die gedruckte Fortsetzung der zahlreichen Talk-Shows, bei denen der berühmte Autor seit längerem regelmäßig zu bewundern ist. Im Gespräch sind keine dichten, kohärenten Texte entstanden, es ist eher ein zielloses, gelegentlich etwas fahriges Durchstreifen der eigenen Geschichte. Müller betreibt keine Generalabrechnung, auch keinen Versuch, „Geschichte aufzuarbeiten“, er teilt lakonisch einige Erfahrungen und Überlegungen mit, mehr nicht. Die zynischen und bitteren Kommentare zum „Leben in zwei Diktaturen“, die Sarkasmen über die kulturpolitischen Grabenkämpfe und abgewürgten politischen Hoffnungen werden wie beiläufig ausgebreitet. Aber noch in dieser unkonzentrierten Form blitzen, neben einigem Leerlauf und Geplauder, böse Pointen und prägnante Beschreibungen auf. Sichtbar werden vor allem seine Dauerkräche mit der DDR-Kulturpolitik, eine Landschaft der Opportunisten und dumpf-kleinbürgerlichen Funktionäre, die pure Dummheit und der ideologische Druck, mit denen ein Künstler in der DDR zu rechnen hatte. Ohne Larmoyanz oder Nostalgie nimmt Müller Abschied von dem Staat, der ihm während der letzten vier Jahrzehnte als das einzig angemessene Bezugsfeld seiner Literatur erschien.

Es ist keine Koketterie, wenn Müller erklärt, an der eigenen Person nicht sehr interessiert zu sein. Man erfährt wenig über die rein private Biographie: einige Indiskretionen, etwas Angeberei mit dem ausschweifenden Liebesleben, die Mitteilung, daß er gerne in Kneipen rumhängt und nicht zu Abstinenz neigt, also die bekannten Versatzstücke, die schon lange das öffentliche Bild des Dramatikers prägen. Die eigene Person beschäftigt ihn nur in Beziehung zu den erstarrten politischen Strukturen, in denen er sich bewegte. Ein Muster zieht sich durch: Müller beschreibt sich als von Anfang an „isoliert, von der Außenwelt getrennt durch mindestens eine Sichtblende“. Die erste Station dieser Isolation ist die Kindheit im Faschismus, die Eltern sind Sozialdemokraten, der Vater kommt in KZ-Haft: „Draußen ist der Feind, die Nazis sind der Feind, die ganze äußere Welt ist feindlich.“ Früh wird Literatur eine Möglichkeit, sich aus dieser bedrohlichen Außenwelt zurückzuziehen: Dostojewski und Nietzsche, Schiller und Hebbel als prägende Erfahrungen des Heranwachsenden, die Lektüre einer englischen Hamlet- Ausgabe aus der Schulbibliothek ist die Entdeckung eines Kontinents: „Ich habe natürlich fast nichts verstanden, aber immer wieder gelesen.“

Die Verhaftung des Vaters durch SA-Männer erlebt der Vierjährige als einschneidenden Schock („...die erste Szene meines Theaters“), der zweite Schock ist der Versuch des Vaters, sich nach der Haftentlassung zu arrangieren, das „löste bei mir den Verratsschock aus“. In einem kurzen Prosatext aus den späten fünfziger Jahren hat Müller diese Kindheitserinnerung literarisch verarbeitet. Was er in der Autobiographie als psychologischen Vorgang beschreibt, wird dort ideologisch aufgeladen: Der Vater, der als Sozialdemokrat 1951 aus der DDR emigrieren mußte, wird nun vom Sohn als Verräter am kommunistischen System denunziert: „Er fand seinen Frieden Jahre später, in einer badischen Kleinstadt, Renten auszahlend an Arbeitermörder und Witwen von Arbeitermördern.“ In den Erinnerungen liefert Müller einen Gegentext zu diesem ideologischen Blick.

Die Brüche und Verschiebungen zwischen der ideologisch aufgeladenen Literatur und dem eher nüchternen Blick der Einnerungen werden sichtbar, wenn man beide parallel liest. Während etwa der Autobiograph Müller sich an die Vergewaltigungen der Roten Armee nach Kriegsende erinnert, ist in den Theaterszenen, die das Kriegsende beschreiben, diese Wahrnehmung zugunsten der ideologisch heilen Welt getilgt: Dort kommen statt dessen in Berlin 1945 Soldaten der Roten Armee in einen Keller und verteilen Brot an die Deutschen.

Aufschlußreich sind die Kommentare Müllers zu einzelnen Theaterstücken. Er ist weit davon entfernt, die Texte erklären zu wollen, statt dessen erzählt er von ihrer Entstehungs- und Wirkungsgeschichte. Gelgentlich ist das banal und geschwätzig (so hält er es für nötig, uns wissen zu lassen, daß die Rohfassung des Textes Hydra mit Hilfe einer Flasche Wodka entstand), aber häufig ermöglicht es eine genauere, reichere Lektüre des Textes. So erfährt man, daß Notizen, die Müller sich unmittelbar nach Kriegsende als Angestellter in einem mecklenburgischen Landratsamt machte, zum Rohstoff des Stückes Die Umsiedlerin wurden: „Ich saß da an einem kleineren Tisch, und der Beamte, der zuständig war, saß an einem Regierungsschreibtisch, und die Bauern standen und trugen ihre Sachen vor. Viel mehr als das, was sie sagten, haben mich die Tonfälle interessiert, die Art, wie sie sprachen. Ich weiß kein konkretes Detail mehr, weil das alles eingegangen ist in den Text von Umsiedlerin. Und damit ist es auch aus meinem Gedächtnis gelöscht.“

Wichtiger als solche Details ist die Haltung, mit der Müller erzählt. Während 1979 für ihn die „Meisterwerke Komplizen der Macht“ waren und er, eine lange zurückreichende Traditionslinie der Moderne fortschreibend, die Selbstaufhebung der Kunst propagierte, versteht er sich mittlerweile offenbar als erhaben über den Dingen stehenden Dichter, für den die Welt lediglich als Schauspiel und Rohstoff für Kunstwerke interessant ist. Unter seinem radikal ästhetisierenden Blick wird Politik zu Theater. Den Stalinismus konnte er ohne weiteres „verarbeiten, mich interessierte die Tragödie. In der bürgerlichen Welt gibt es ja nur Trauerspiele.“ Der 17.Juni 1953 „war einfach interessant, ein Schauspiel“. Das Ritual der Selbstkritik nach dem Verbot seines Stückes Die Umsiedlerin 1961, „hatte durchaus auch einen Theateraspekt, wie die Leute an mir vorbeigingen und mich nicht grüßten. Ich war nicht verletzt, ich habe das alles mit Interesse beobachtet.“

In dieser Perspektive werden politische Überzeugungen zu austauschbaren Masken: „Ich konnte nie sagen, ich bin Kommunist. Es war ein Rollenspiel. Es ging mich im Kern nie etwas an.“ Die neue Rolle, in der Müller in der Autobiographie auftritt, ist die des „Beobachters, nichts weiter“. Einiges pointierter und schärfer als in den Erinnerungen hat Müller diese Position in einem Gespräch mit Uwe Wittstock formuliert, das im letzten Heft der 'Neuen Rundschau‘ erschien. „Man muß ausgehen von der Trennung zwischen Text und Autor“, verkündet er dort; der Autor könne sich irren, der Text nicht. „Bei ernstzunehmenden Autoren gibt es einen Moment, in dem Willkür Genie wird.“ Der unkontrollierte Schreibprozeß setze quasi unabhängig vom Bewußtsein des Autors Wahrheit frei: „Ich komme immer wieder an Punkte, an denen ich nicht mehr verstehe, was ich schreibe. Ich kann es nicht mehr denken. Ich weiß nur genau: Jetzt drängt sich dieses Wort auf. Das paßt in den Satz. Wenn ich es eine Woche später lese, dann stimmt es auch. Aber ich kann es nicht begründen.“ So bekommt die Kunstproduktion metaphysische Qualitäten. Das ist unschwer als Rückzugsgefecht erkennbar: Nachdem die politischen Utopien von der Geschichte überrollt wurden, bleibt als letzter Religionsersatz die Kunst.

Eine Konsequenz dieser Haltung ist das trocken festgestellte Desinteresse an moralisierenden Schreibhaltungen: Kunst muß nicht edel sein, sondern gelungen. „Man kann als Künstler nur eine Moral haben, nämlich die, seine Arbeit so gut zu machen wie man kann.“ Von einiger Ironie ist dabei, daß die Selbstbeschreibung als pures Kunstgenie in einem vollkommen kunstlosen Text unternommen wird.

Obwohl das Buch, verglichen mit dem Niveau der literarischen Texte und der Regiearbeiten Müllers, enttäuschend ist, hat es scharfsinnige Provokationen zu bieten, an denen abzuarbeiten sich lohnt. So kreist das (nicht gesprochene, sondern geschriebene) Nachwort um eines von Müllers Lieblingsthemen, die Macht der Toten, und beschreibt den verordneten Antifaschismus der DDR als Totenkult: „Eine ganze Bevölkerung wurde zu Gefangenen der Toten.“ Scharfe Formeln, die man an anderer Stelle nicht findet.

Zehn deutsche sind dümmer als fünf. Uwe Wittstock interviewt Heiner Müller: in 'Die Neue Rundschau‘, 2/92, Fischer Verlag, 15DM.

Heiner Müller: Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Kiepenheuer & Witsch, 426Seiten, 45DM.

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