: Texte in Bewegung
■ Grenzfall. Walter Benjamin zum 100. Geburtstag Eine Ausstellung im Institut für Heuristik
Am vergangenen Samstag wurde im Institut für Heuristik eine Ausstellung eröffnet, die den 100. Geburtstag Walter Benjamins zum Anlaß nimmt, eine eigenwillige Begegnung mit dem Philosophen zu betreiben. Der Rahmen ist Benjamin angemessen: Das Institut für Heuristik agiert am Rand des Kultur- und Wissenschaftsbetriebs, kein Ort des oberflächlichen Kulturkonsums, eher ein Geheimtip; anders als die Benjamin-Ausstellung, die das Werkbundarchiv im vergangenen Jahr veranstaltete, setzt dieses Projekt nicht auf ein schickes und beliebiges Spektakel, sondern auf die Aufmerksamkeit und die Neugier von Besuchern, die bereit sind, den Bezugsfeldern und Querverbindungen in Benjamins labyrinthischem Denken in der Ausstellung nachzuspüren.
Die erste Installation kreist um eine zentrale Konstellation im Denken Benjamins, die mit einem Satz aus Benjamins Baudelaire-Buch prägnant benannt wird: »Blanquis Tat ist die Schwester von Baudelaires Traum gewesen.« Die Installation fragt nach der Beziehung, die Benjamin zwischen revolutionärer Umwälzung (für die Sozialrevolutionär Blanqui steht) und Kunst herstellt: An einer Wand ein kurzer Text Blanquis von 1869, eine »Anweisung für den Straßenkampf« mit Hinweisen zum Barrikadenbau (übrigens fehlt der Text in den deutschen Blanqui- Ausgaben, er wurde erstmals für die Ausstellung übersetzt). An der gegenüberliegenden Wand ist eine Erinnerung an die Straßenkämpfe der Pariser Commune inszeniert: Ein Gemälde, das die Kommunarden auf der Barrikade zeigt, davor einige Pflastersteine, die gleichzeitig wie ausgegrabene Spuren, Überbleibsel vergangener Kämpfe wirken und die Verbindung ins 20. Jahrhundert und den »Erdbeben, die kommen werden« (Brecht) herstellen. Das Ensemble wird gebrochen durch zwei einmontierte Texte: auf Pflastersteine sind Zitate geklebt, die von der Liebe zur Kunst und der weltabgeschiedenen Stille der Bibliotheken sprechen: Edmond de Goncourt notiert 1871 in seinem Tagebuch, daß Flaubert sich durch die revolutionären Unruhen nicht beeindrucken läßt: »Die Sintflut scheint über ihn hinweggegangen zu sein, ohne ihn auch nur im geringsten von der Arbeit an seinem Buch abzulenken.« Für den Künstler ist die Revolution nicht mehr als ein lästiges Nebengeräusch.
Drei Punkte sind hier in Beziehung gesetzt: Die revolutionäre Theorie, der gescheiterte Aufstand und der Rückzug in die Kunst — die Bewegung aus den Bibliotheken auf die Barrikaden (Flaubert). Indem die Installation den geschichtlichen Stoff, der Benjamin beschäftigte, ausgräbt, gelingt es ihr so raffiniert wie schlagend direkt, einen wesentlichen Zug in seinem Denken sichtbar zu machen. Die Installation ist um einen Durchgang gruppiert, rechts das Bild und die Steine, links der ausgegrabene Blanqui-Text. Der Durchgang öffnet den Blick auf eine zweite Installation, die wie ein Kommentar und ein Echo der ersten wirkt: Der New Yorker Künstler John Miller, der zur Zeit als DAAD-Stipendiat in Berlin lebt, hat sich von Benjamins erster geschichtsphilosophischer These zu einer komplexen Installation anregen lassen: Zunächst sieht man nicht mehr als eine große Puppe an einem Schachbrett, eine Anspielung auf den Schachautomaten, den Benjamin beschreibt, um seine theologisch inspirierte Geschichtsphilosophie zu illustrieren. Neben der Puppe zwölf der für Benjamin bedeutsamsten Bücher, darunter Poe und Kleists Über das Marionettentheater, Carl Schmitt und Karl Korsch. Die Bibliothek verliert ihren weltabgeschieden ruhigen Charakter: Spätestens wenn der Rätekommunist Korsch neben Carl Schmitt auftaucht (die Benjamin beide kannte und die einander kannten) wird klar, daß die Bibliothek auch ein Kampfplatz ist. Plötzlich hat das Schachspiel nichts Kontemplatives mehr: Es ist ein Tableau vom Kämpfen. Ein unauffällig an die Wand geklebter Text zeugt davon, wie die in den Bibliotheken stattfindenden Gefechte sich fortzusetzen vermögen: In einigen theoretischen Überlegungen zitieren RAF-Gefangene 1975 eine lange Benjamin-Passage. Erschien in der ersten Installation die Bibliothek als der Gegenpol zu den sozialen Kämpfen, wirkt sie hier wie ein Echo oder eine Reaktion auf sie: »Der Kampf geht weiter«, um hier einen in Vergessenheit geratenen Satz zu zitieren.
Es gelingt der Ausstellung, bekannte Texte und Kontexte neu lesbar zu machen. Die Texte geraten in Bewegung und in andere Zusammenhänge. Vor allem auf die Eigenbewegung der Texte setzen weitere Elemente der Ausstellung: Mit Hilfe eines Computers wurde das Material, das Benjamin für sein geplantes Passagenwerk gesammelt hatte, aus der Erstarrung der Buchausgabe gelöst: Unter verschiedenen Stichworten lassen sich kurze Texte Benjamins finden, die neu in Beziehung zueinander gesetzt werden können: Ein elektronischer Zettelkasten.
Nach einigen konventionellen Veranstaltungen zu Benjamins 100. Geburtstag (so las beispielsweise Heiner Müller im Deutschen Theater Benjamin-Texte), dürfte dies in Berlin die klügste und ungewöhnlichste Begegnung mit Benjamin sein, die äußerst liebevoll und kenntnisreich seine Lebendigkeit bezeugt. Im Umfeld der Ausstellung entstandene Texte werden in der nächsten Ausgabe der Zeitschrift 'Schattenlinien‘, die vom Institut für Heuristik herausgegeben wird, erscheinen. Ergänzt wird diese Ausstellung durch einen Vortrag, den Thomas Gabler, einer der Ausstellungsmacher, halten wird, durch einen Film im »Arsenal« und durch ein Abschlußfest am 15. Juli., dem 100. Geburtstag des Philosophen. Peter Laudenbach
Grenzfall. Walter Benjamin zum 100. Geburtstag. Eine Ausstellung des Instituts für Heuristik in der Galerie Mulackstr. 23, Berlin- Mitte. Mo.-Fr. 16-19 Uhr, Sa. und So. 12-20 Uhr. Bis zum 15.7.
Vortrag: Thomas Gabler:
Benjamins Tableau der Geschichte . So., 12.7., 20 Uhr Mulackstr. 22.
Film: La ultima frontera/Die letzte Grenze . Arsenal, Sa., 11.7., 14 Uhr.
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