Hat es München überhaupt gegeben?

Das Gipfelkarussell ist abgebaut/ Sein Kern, das Hilfsprogramm für Rußland, verschwindet zusehends/ Der aufgeschobene Schuldendienst hat Rußland bis heute 2,5 Milliarden Dollar gekostet  ■ Von Donata Riedel

Das Münchner Gipfelkarussell hat sich mit hoher Geschwindigkeit gedreht. Nun steht es still — und alle Welt wundert sich, daß es sich nicht von der Stelle bewegt hat. Bei der hohen Drehgeschwindigkeit — immer um den Mittelpunkt jenes 24 Milliarden Dollar schweren Hilfspakets für Rußland — ist es eher ein Wunder, daß eine neue Einsicht dennoch aufspringen konnte: die Erkenntnis, daß sich mit einem IWF-Standardprogramm die Schwierigkeiten Rußlands nicht Schlag auf Schlag lösen lassen, wie Boris Jelzin den Kohls und Bushs klarmachen konnte.

Rußlands Präsident war deshalb wohl wirklich „sehr zufrieden mit dem Treffen“ der G-7-Regierungschefs aus den USA, Japan, der Bundesrepublik, Frankreich, Großbritannien, Italien und Kanada — auch wenn es nur die konkrete Zusage gab, die erste IWF-Kredittranche von einer Milliarde Dollar im August zu überweisen. Die Gipfelherren jedoch dürften nicht lange zufrieden sein. Sobald der Schwindel ihrer rasanten Karussellfahrt nachläßt und der verschwommene Blick auf die Welt wieder klarer wird, werden auch die Kanten der Vereinbarung zwischen dem russischen Premierminister Jegor Gaidar und dem IWF-Exekutiv-Direktor Michel Camdessus Kontur gewinnen.

So verteilte die russische Delegation eine Prognose über die Entwicklung der russischen Wirtschaft. Beim Haushaltsdefizit orientierten sich die amtlichen Statistiker noch an der Gaidar-Camdessus-Vereinbarung: Es soll sich 1992 auf deutlich weniger als die festgeschriebenen fünf Prozent, nämlich 2,3Prozent des Bruttosozialprodukts, belaufen. Gegenwärtig jedoch liegt es bei 17Prozent. Aber schon bei der Inflationsrate, die nach Gaidars Plänen bis Ende des Jahres von monatlich 20 auf höchstens zehn Prozent sinken soll, steigen die Statistiker aus dem gemeinsamen Boot mit Gaidar aus. Sie errechneten 30 bis 35Prozent monatliche Inflationsrate.

Der IWF hält standardprogrammgemäß den Blick fest geheftet auf das Haushaltsdefizit, die Stabilisierung der Währung und freie Preise. Die Geldexperten fordern zwar, daß marktkonforme Eigentumsgesetze geschaffen und die Privatisierung der Staatsbetriebe angegangen werden sollen. Allein der Weg dahin ist weit und mühsam und dauert ganz offensichtlich länger als jene „wenigen Wochen“, die Camdessus für die Regelung der Eigentums- und Investitionsfragen vorsieht.

Daß sich die Nachfolgerepubliken der UdSSR bereits im Oktober zügig auf eine Neudefinition der Rubelzone und die Aufteilung der Altschulden einigen werden, dürfte von den russischen Realitäten weit abgehobenes IWF-Wunschdenken sein. Und Stufe drei des Plans, in der endlich der sechs Milliarden Dollar teure Rubel-Stabilisierungsfonds zum Einsatz kommen soll, ist qua Programm auf den St. Nimmerleinstag verschoben: Voraussetzung sei, so Camdessus, daß die wirtschaftliche Entwicklung sich stabilisiere.

Die jedoch schlingert auf Abwärtskurs. Mit dem Auseinanderdriften der neuen Staaten in ihren noch unscharfen Grenzen lösen sich auch die Wirtschaftsbeziehungen. Unregelmäßige Lieferungen von Bauteilen und Rohstoffen, so die russischen Statistiker, werden die Exporte Rußlands um 17 bis 22Prozent drücken. Die Energiepreise werden nicht — wie der IWF fordert — freigegeben, aber um das 30fache erhöht. In der Folge steigen auch die Transportkosten um das 16- bis 22fache. Nur die von Monopolen geprägte Industriestruktur wird so statisch bleiben wie sie ist, und damit auch das Preisdiktat, das lediglich von den Planbehörden direkt zu den Monopolbetrieben verschoben wurde.

Das Schwindelgefühl könnte bei den G-7-Herren nach dem Absteigen vom Gipfelkarussell zurückkehren, wenn sie weitere Fakten fest in den Blick nehmen — wie die Zunahme der Tauschgeschäfte auf 60 bis 70Prozent des Geschäftsvolumens aller Betriebe oder das um elf Prozent sinkende Bruttosozialprodukt.

Nach der Logik dieser Verhältnisse müßte das Milliardenpaket als Dreh- und Angelpunkt des Gipfelkarussells beim Abbau des Münchner Rummelplatzes gleich mit eingemottet werden — bis zum nächsten Jahr in Tokio. Bei genauerem Hinsehen bleibt aber auch von diesem Kern nicht allzuviel übrig: Sechs Milliarden Dollar für den Rubel-Stabilisierungsfonds werden wegen der fehlenden Voraussetzungen weiter einbehalten, 4,5 Milliarden sind jene Kredite von IWF und Weltbank, auf die Rußland als Mitglied ohnehin Anspruch erheben kann. Weitere 2,5 Milliarden Dollar hat bis heute bereits der aufgeschobene Schuldendienst gekostet.

Das verbleibende Elf-Milliarden- Dollar-Päckchen ist keinesfalls eine neu aufgelegte Hilfszahlung. Es wurde, wie der russische Wirtschaftsstar Gregori Jawlinski anläßlich des Gipfels erinnerte, bereits 1990 und 1991 Michail Gorbatschow als Kreditlinie eingeräumt. Der Kern, um den das Karussell sich drehte, löst sich somit auf. Hat es den Münchner Rummel überhaupt gegeben?