Kein "ewiger Friede", aber immerhin eine Feuerwehr

■ Zum Auftakt ihres Gipfels im finnischen Helsinki haben die 51 Mitgliedsstaaten der "Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa" (KSZE) ihren Willen demonstriert, künftig...

Kein „ewiger Friede“, aber immerhin eine Feuerwehr Zum Auftakt ihres Gipfels im finnischen Helsinki haben die 51 Mitgliedsstaaten der „Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (KSZE) ihren Willen demonstriert, künftig entschlossen in Kriege und Krisen einzugreifen. Zwar ist Europa von einem kollektiven Sicherheitssystem nach wie vor weit entfernt. Aber erste, wenn auch halbherzige Schritte in Richtung überstaatlicher Konfliktverhütung und -beilegung sind getan.

Wohin steuert das europäische Staatensystem nach dem Ende der Blockteilung? Geht es zurück in die krisengeschüttelte Zwischenkriegszeit oder vorwärts in ein Zeitalter der Vernunft, in der alle Staaten, da sie demokratisch organisiert sind, ihre Konflikte friedlich regeln werden? Die Visionäre des Jahres 1989 hatten die Perspektive des „ewigen Friedens“ vor Augen, die Pragmatiker, die die 4. Helsinki-Konferenz vorbereiteten, begnügen sich damit, eine halbwegs funktionierende Feuerwehr aufzubauen. Das ist nicht wenig — wenn sie funktioniert.

Die Abschlußdokumente der KSZE-Konferenz, die heute angenommen werden, gliedern sich in eine wohlmeinende, vorhergehende Beschlüsse paraphrasierende politische Erklärung und in einen „harten“ Teil: die „Helsinki-Entscheidungen“. Das 75-Seiten-Papier, dessen langatmige Gründlichkeit die mitwirkende Hand deutscher Diplomatie verrät, legt die wichtigsten Neuerungen dar. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Von einem kollektiven Sicherheitssystem sind wir noch ebenso weit entfernt wie von Verhältnissen, wo ein Tyrann unter der Berufung auf das Prinzip der Nichteinmischung nicht mehr nach Belieben seine Untertanen schinden oder vertreiben kann. Aber erste, wenngleich halbherzige Schritte in Richtung überstaatlicher Konfliktverhütung und -beilegung sind getan.

Voraussetzung dafür ist die Entscheidung, die KSZE künftig als regionale Organisation im Sinne des Kapitels VIII der UNO-Charta zu definieren. Daraus folgt, daß in allen die Region betreffenden Fragen, auch Konflikten, diese zunächst selbst zuständig ist. Erst nach dem Scheitern der KSZE-Organe kommt die Weltorganisation zum Zug. Was die Konfliktregelung beziehungsweise -prävention betrifft, wird in den „Helsinki-Entscheidungen“ das „Frühwarnsystem“ präzisiert, und es finden sich erstmals Bestimmungen über Truppeneinsätze. Auf Anforderung einer Staatengruppe oder der KSZE-Institutionen, zum Beispiel des Ausschusses Hoher Beamter (AHB), des Außenministerrats oder der neu eingerichteten „Troika“ (amtierender, letzter und künftiger Vorsitzender) können fact- finding missions beziehungsweise Beobachterdelegationen in ein Krisengebiet geschickt werden. Die Fact-Finders haben einen genau umrissenen, kurzfristigen Auftrag, die Beobachter sollen sich aufs längerfristige Untersuchen konzentrieren. Konkret sind solche Missionen für Transnistrien, Südossetien und drei Gebiete des ehemaligen Jugoslawien beschlossen worden (Sandjak, Wojwodina, Kosovo). Für Berg-Karabach wird irgendetwas zwischen längerfristiger Beobachtung und einer „echten“ peace-keeping mission beschlossen. Die Bundesregierung zeigte hier niedriges Profil. Sie wird den Vorsitzenden der Südossetiengruppe stellen und mit der dazugehörenden Transportkapazität (ein Flugzeug) aufwarten.

Sowohl Beobachter als auch peace-keeping missions nach Ausbruch eines Konflikts können nur losgeschickt werden, wenn alle beteiligten Staaten zustimmen. Zwangsmaßnahmen nach dem Kuwait-Modell sind ausgeschlossen — für sie ist weiter der UNO-Sicherheitsrat zuständig. In der „Politischen Erklärung“ wie in den „Entscheidungen“ finden sich Formulierungen, die auf den Schutz von Hilfskonvois und von Flüchtlingstrecks zielen — aber auch hier wäre das Einverständnis des betreffenden Staates Voraussetzung. Verschiedene Militärorganisationen auf der Suche nach Identität und öffentlicher Legitimation drängeln sich jetzt danach, für die KSZE in Krisengebieten tätig zu werden. NATO und Westeuropäische Union (WEU) werden in den Entscheidungen gleichberechtigt genannt, aber auch andere Staaten „dürfen“, wenn ihr Angebot angenommen wird.

Um die Vielfalt des Angebots vollständig zu machen, muß noch die Absicht des UNO-Generalsekretärs erwähnt werden, die Stabsstelle bei der UNO zu aktivieren und eine ständige UNO-Truppe aufzustellen. Das Bonner Außenministerium ist natürlich bestrebt, die politischen Gegensätze hinter den verschiedenen Konzepten herunterzuspielen. Eins war dem deutschen KSZE-Missionschef Wilhelm Höynck im Hintergrundgespräch allerdings vollständig klar: „Vom Weltstaat sind wir noch weit entfernt.“ Weit entfernt sind die KSZE-Dokumente auch nach wie vor von der Einrichtung einer obligatorischen Schiedsgerichtsbarkeit. Ein entsprechender, vor allem von Frankreich favorisierter Vorschlag wurde zur weiteren Behandlung an ein Spezialtreffen in Genf verwiesen. Die USA, die so gerne via NATO bei Friedensmissionen in Europa und im GUS-Bereich mit von der Partie sein wollen, zeigten sich hier besonders dickfellig.

Einen wirklichen Fortschritt bringt die Einrichtung des Hohen Kommissariats für die Minderheiten. Untersuchungen vor Ort können schnell und unkompliziert vonstatten gehen, die Streitparteien, regierungsunabhängige Organisationen (NGOs) und andere gesellschaftliche Organisationen müssen gehört, Experten können herangezogen werden. Verweigert ein Staat mit Minderheitenproblemen die Einreise, so kann er, wie beim Prager Treffen der Außenminister entschieden, mit Sanktionen belegt werden — selbstverständlich auch ohne seine Einwilligung. Minderheiten im Sinne der KSZE (wie der UNO) sind allerdings nur solche, die die Staatsbürgerschaft eines „Mehrheitslandes“ besitzen. Über die Arbeitsemigranten finden sich nur einzelne zu nichts verpflichtende Bemerkungen — Integrationshilfen, gleicher Lohn usw. Angesichts der Tatsache, daß die ungelösten Minderheitenfragen heute das Kriegspotential bilden, bleiben die KSZE-Beschlüsse weit unterhalb des praktisch Notwendigen.

Etwas besser sieht es um den Schutz der Menschenrechte aus, denn hier kann wenigstens, bei den Mitgliedern des Europarats, der Gerichtshof für Menschenrechte tätig werden. Das Warschauer Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte wird zwischen den KSZE-Folgekonferenzen Überprüfungstreffen abhalten. Auch hier sind fact-finding- und Beobachtergruppen vorgesehen.

Daß außer dem Vorschlag zur Verzahnung bestehender internationaler Organisationen im Wirtschaftsteil nichts Bemerkenswertes stehen würde, war vorauszusehen. Die Tragödien spielen sich hier auf anderen Bühnen ab. Gravierender ist, daß hinsichtich des Umweltschutzes nur „ermutigt“ und „begrüßt“ wird. So ging es auch der grünen „task force“, einem deutschen Lieblingskind, das, auf nationaler Ebene tätig, sich nun mit seinen Geschwistern „vernetzen“ soll.

Man muß kein Liebhaber internationaler Großorganisationen sein, um die Effektivität der neuen „vertieften“ KSZE an dem Umfang der Mitarbeiterstäbe zu messen. Das Prager Sekretariat hat es jetzt auf neun Mitarbeiter gebracht, das Warschauer Büro — immerhin zuständig für Demokratie und Menschenrechte — verfügt über stolze zwei Mitarbeiter. Wirklich deprimierend ist aber die Zahl der Mitarbeiter des Wiener Konfliktverhütungszentrums, dem im Rahmen des jetzt institutionalisierten Forums für Sicherheit wichtige Kontroll-, Überwachungs- und Analyseaufgaben zufallen werden: Sie beträgt ganze fünf. Worte und Taten — das alte Thema. Christian Semler, Helsinki