piwik no script img

„Junkie-Jogging“ in der Mainmetropole

In Frankfurt zerschlägt die Polizei die offene Drogenszene/ Wahlkampf auf dem Rücken von Kranken  ■ Von Klaus-Peter Klingelschmitt

Frankfurt/Main (taz) — „Den Streß hältste kaum aus. Die Bullen knallen durch. Ich wart' nur drauf, bis hier auf der Szene der erste Junkie einen Herzkasper kriegt.“ Was den Junkie und Kleindealer Bernie so in Rage bringt, ist die von einigen Polizisten zynisch „Junkie-Jogging“ genannte neue Strategie von Polizeiführung und Magistrat zur Zerschlagung der offenen Drogenszene in Frankfurt am Main. Das seit Wochen inszenierte Katz-und-Maus-Spiel der Polizei mit Drogenhändlern und Abhängigen auf der Kaiserstraße, in den Innenstadtanlagen und am Main soll ab heute mit dem Ziel forciert werden, die User und Dealer aus dem Umland zurück in die Klein- und Großstädte der gesamten Region zu treiben. Schließlich würden knapp zwei Drittel aller Abhängigen auf der offenen Szene aus dem Umland kommen, sagte der Vizepräsident der Frankfurter Polizei, Peter Frerichs, auf einer Pressekonferenz von Polizeipräsident Karlheinz Gemmer (SPD). „Nach der Sommerpause“, so die Prognose von Gemmer, würden die Rauschgiftsüchtigen aus allen städtischen Anlagen verschwunden sein.

Für Bernie und seine Leute wird der „Streß“ also zunehmen. Und auf der Strecke werden all die schwerkranken Süchtigen bleiben, die schon heute dem „Junkie-Jogging“ der Polizei nicht gewachsen sind, wie Sebastian Popp, Mitglied der Römerfraktion der Grünen, am vergangenen Freitag erklärte. Nach Wochen des Schweigens zu der auch von Oberbürgermeister Andreas von Schoeler ( SPD) nachdrücklich gebilligten Zerschlagungsstrategie, verwiesen die Grünen auf die Koalitionsvereinbarungen: „Die Stadt fördert die Hilfe für Drogenabhängige durch die Bereitstellung eines niedrigschwelligen Angebots für Drogenabhängige, durch die kontrollierte Vergabe von Drogenersatzstoffen und auch durch Beratungs- und Therapieeinrichtungen für Frauen.“ Doch von einer Koalitionskrise wegen der martialischen Polizeieinsätze gegen Kranke wollten weder Popp noch Fraktionsgeschäftsführer Lutz Sikorski sprechen — schließlich sind in neun Monaten hessische Kommunalwahlen. Die Grünen forderten die Polizeiführung auf, das „Junkie-Jogging“ zumindest so lange auszusetzen, „bis das angelaufende Methadonprogramm flächendeckend greift und Übernachtungsplätze für Junkies in ausreichendem Maße zur Verfügung stehen“.

Daß auf dem Rücken der Junkies in Frankfurt Politik gemacht wird, hat seinen spezifisch kommunalpolitischen Grund. Mit der Demonstration von Stärke wollen die Sozialdemokraten den auf den Einzug ins Rathaus spekulierenden rechtsradikalen Parteien das Wasser abgraben. Doch der „Schuß“ könnte nach hinten losgehen. Schon heute zeitigt die Vertreibungsstrategie den Effekt, daß sich die Szene auf andere Bezirke rund um die Innenstadt verteilt. Immer häufiger sind Junkies und Dealer in Anlagen wie dem Rothschildpark anzutreffen — „und die Probleme mit den Anwohnern wachsen“ (Grüne). Weil sich die aus dem Bahnhofsviertel vertriebene Szene inzwischen selbst im Bankenviertel aufhält, glaubt man an der Basis der Grünen, daß der Anstoß zur Forcierung der Zerschlagungsstrategie aus den Chefetagen der Geldspeicher gekommen sei. Die Polizeiführung jedenfalls ist wild entschlossen, die Szene „rund um die Uhr“ aufzumischen. Im letzten Refugium der Drogenabhängigen, den Taunusanlagen in der City, werde man keine Junkies und Dealer mehr dulden, sagte Polizeipräsident Gemmer. Von dort vertriebene Grüppchen würden verfolgt— „wenn es sein muß, bis in die Wohngebiete“.

Daß sich die Junkies dann tatsächlich in die S-Bahnen setzen und Frankfurt verlassen, glauben weder Streetworker noch Jugendpolitiker. Zum einen mangele es in den meisten Umlandgemeinden an therapeutischen Einrichtungen und Methadonangeboten. Zum anderen sei Frankfurt nach wie vor der Hauptumschlagplatz für Drogen in Deutschland. Eine schlichte Problemverlagerung auf die Umlandgemeinden, so Sebastian Popp, könne doch nicht Ziel einer verantwortungsbewußten Drogenpolitik sein. In Frankfurt, so Popp, störe es keinen Menschen, wenn sich in einer Innenstadtgarage die Insassen von zwei schwarzen Luxuslimousinen treffen, um ein größeres Drogengeschäft abzuwickeln.

Streetworker: Die Todesrate wird steigen

Aber das in der Stadt „versammelte Elend“ gilt als „Störfaktor“. Popp: „Erst wenn die Angebote — sogenannte ,shooting galeries‘ und Entzugskliniken — stehen, kann die ,offene Szene‘ aufgelöst werden.“ Frankfurt werde auch dann noch mit einer „Restzahl“ von Drogenabhängigen auf der Szene leben müssen, denn die Menschen, die sich seit Jahren dort bewegten, seien oft auch immun gegen Hilfs- und Substitutionsprogramme.

Die Polizei verweist auf erste Erfolge bei der Anwendung der Zerschlagungstaktik. So sei die Straßenkriminalität in den vergangenen fünf Wochen deutlich zurückgegangen und die Szene ausgedünnt worden. Und deshalb werden sich Bernie und seine Clique und alle anderen Junkies darauf einstellen müssen, Tag und Nacht durch die Straßen der Stadt gejagt zu werden. Wie ein Streetworker dazu erklärte, erhöhe sich so — unter Streßbedingungen — automatisch die Todesrate. 76 Menschen sind in Fankfurt bislang in diesem Jahr Opfer ihrer Drogensucht geworden.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen