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„Die Psyche an Arbeitslosigkeit gewöhnen“

In Rußland haben nur Schwerstarbeiter eine Chance/ 80 Prozent aller Arbeitslosen sind Frauen/ Heimkehrende Soldaten werden das Heer der Erwerbslosen vergrößern/ Den Angestellten der neugegründeten Arbeitsämter fehlen Erfahrungen  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Wir bemühen uns, der Flut von Arbeitslosigkeit, die im Herbst über uns hereinbrechen wird, nicht völlig hilflos zu begegnen“, erklärt mir mit einer kleinen verzweifelten Stimme Pavel Kudjukin, Stellvertreter des russischen Arbeitsministers. „So versuchen wir, Beschäftigungsprofile der Landesregionen zu erstellen. Leider sind die Menschen bei uns nicht sehr mobil. Und für viele Großstädte besteht noch immer eine Zuzugssperre.“

Anfang Juli waren in der Russischen Föderation etwa 180.000 arbeitslose Männer und Frauen registriert, doch die Dunkelziffer wird viel höher geschätzt. Mit der Verschlechterung der Lebensbedingungen und ständig steigenden Preisen werden im Winter wahrscheinlich schon Millionen ihre Scheu vor den bisher im Lande unbekannten Arbeitsämtern überwinden, die vor genau einem Jahr eingerichtet wurden. Allein im Moskauer Gebiet werden zudem durch den weiterhin zu erwartenden Produktionsrückgang veralteter Betriebe und die Heimkehr von Soldaten aus dem Ausland über eine halbe Million neuer Arbeitsloser bis Jahresende erwartet, das sind etwa 4 bis 6 Prozent der Bevölkerung.

Mit philosophischer Gelassenheit begegnet der Chef des Zentralen Arbeitsamtes in Moskau, Igor Jefimowitsch Saslawski, dem Problem. Er hat das Phänomen Arbeitslosigkeit am eigenen Leib erfahren. 17 Jahre war er als Wissenschaftler am Moskauer „Institut für Arbeit“ tätig. Als Saslawski begann, im In- und Ausland Artikel über die Unterbeschäftigung in der Sowjetunion zu publizieren, wurde er entlassen: Arbeitslosigkeit im Paradies der Werktätigen durfte und konnte es nicht geben. „Da habe ich richtig schreiben gelernt und bin Journalist geworden. Es war schrecklich schwer, meine Artikel den Zeitungen anzudrehen“, sagt Saslawski lachend. Seine Funktion, erklärt er zu meiner Überraschung, sehe er keineswegs darin, die Erwerbslosigkeit zu bekämpfen: „Arbeitslosigkeit ist eine Folge und keine Ursache. Ich will nicht jeden Bürger mit Gewalt unter Dach und Fach bringen. Wir müssen heute eine Übergangsphase verwalten. Das wichtigste ist, die Psyche der Menschen an eine normale Arbeitswelt zu gewöhnen, in der vorübergehende Arbeitslosigkeit zum Alltag gehört und keine Panik erzeugt.“ Igor Jefimowitsch residiert in einem holzgetäfelten Altstadtpalais mit menschenleeren Hallen. Wo sind die Arbeitslosen? Sie muß man in den Bezirksarbeitsämtern suchen, und auch die Panik ist dort zu Hause.

„Natürlich ist hier alles nicht ganz so, wie es sich gehört“, entschuldigt sich Galina Viktorovna Sviridovna verlegen. Die Direktorin des Arbeitsamtes im Stadtteil Kunzewo deutet auf die Einrichtung der Parterrewohnung, auf die wild zusammengewürfelten und meist defekten Stühle. Immerhin erblicke ich Computer — sie sehen zwar aus wie selbstgebaut, funktionieren aber. „Manchmal kommt kaum einer“, sagt Galina Viktorovna, „und ein anderes Mal kriegen wir die Tür nicht zu.“ Sie zeigt mir ihre Karteikärtchen: Recht auf Unterstützung haben Frauen und Männer, die nach dem 1.Februar 1991 ihren Job verloren. Die Arbeitslosenhilfe beträgt 75 Prozent des letzten Einkommens in den ersten drei Monaten, danach sinkt sie vier Monate lang auf 60 Prozent und dann auf magere 50 Prozent. Wer keinen Anspruch auf den Arbeitslosenstatus hat, kann Sozialhilfe beantragen. Die erstattet meist nur die Miete, vorläufig noch der geringste Posten im Budget der RussInnen.

Im Bezirk Kunzewo, in dem die KPdSU ihre Wohnhochburgen baute, hatten sich gegen Ende des Winters nur 25 Parteifunktionäre arbeitslos gemeldet. Die meisten Arbeitslosen hier stammen aus intellektuellen Berufen: Journalisten, Schauspieler, Übersetzer. Als zumutbar gilt ein Job, der nicht schlechter bezahlt ist als der letzte. Gesucht aber werden auch in diesem privilegierten Viertel Schwerstarbeiter. Zwei große Eisengießereien sehnen sich händeringend nach Leuten, die zupacken — von Blaßschnäbeln wollen sie nichts wissen. Ebensowenig von den zahlreichen Sekretärinnen, Programmiererinnen und Ingenieurinnen, die hier wie im ganzen Lande ihre Jobs verlieren.

80 Prozent aller Arbeitslosen in Rußland sind Frauen. Wenn sie Kinder haben oder sich im Vorpensionsalter befinden, haben sie praktisch keine Chance mehr. Zur Benachteiligung der Frauen trägt bei, daß die Betriebe aus eigener Kasse Kindergeld zahlen sollen, das nur den Müttern zusteht. Das Arbeitsamt versucht, ältere Frauen vorzeitig zu pensionieren, wobei es in diesem Falle die Kosten trägt.

Das alles sei nicht gut durchdacht, klagt Galina Viktorovna. „Wenn wir doch in Ländern mit mehr Erfahrung lernen könnten. Wie sollen wir unsere Arbeitsteilung organisieren? Wie die Ernsthaftigkeit eines Antragstellers einschätzen? Wie den Betrieben begegnen?“ Zu Jahresbeginn wurde der Bezirk Kunzewo mit zehn anderen zu einer Präfektur zusammengefaßt. „Sie werden sehen, dies ist nicht die letzte Reorganisation“, prophezeite Galina Viktorovna damals kassandrahaft und sollte recht behalten. Heute sollen die Superpräfekturen wieder aufgelöst werden, weil sie sich nicht bewährt haben. Nicht geändert hat sich die Arbeitsberaterin Viktorija Michailowna, eine schlanke Frau um die Vierzig mit brünettem Bubikopf. Als Programmiererin arbeitslos geworden, hat sie im Januar im neuen Beruf angefangen. Oft treffe ich sie auf dem Weg zum Bus. „Wie grau war doch mein früheres Leben“, meint sie dann: „Jetzt, wo ich all die gekränkten und weinenden Menschen aufrichten kann, erkenne ich meine wahre Berufung. Nach und nach bringe ich ihnen bei, daß ihre häufigste Frage absurd ist: Warum gerade ich? Warum gerade ich?“

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