: Die Nacht des Gärtners
■ Der Bremer Blindengarten blüht / Eine Reise durch Knoops Park mit geschlossenen Augen - an der Hand eines Blinden
Otto Dwelk, 68 Jahre alt, ist leidenschaftlicher Kleingärtner. „In ganz Bremen Nord“, sagt er, „war ich als Schätzer von Kleingärten unterwegs.“ Seine Hand streicht am Stengel der Geranie entlang, knautscht und reibt die Blüten, rupft an den grünbraunen Blättern.
„Ich weiß es nicht. Ich kann mir kein Bild machen. Eine Pfingstrose?“ Otto Dwelk ist blind. Ich hatte ihn gebeten, mich durch den Blindengarten Bremen in Sankt Magnus zu führen, der Blinde den Sehenden. Ein Experiment.
Mit dem weißen Stock tastet er sich an den Hochbeeten, die von Holzpfosten umrandet sind, entlang. Die linke Hand, blaß, zart, sucht nach den mit erhabenen Punkten beschrifteten Schildern, bevor sie sich in den raschelnden Farn wagt. Erst lesen, dann fühlen, und dann: riechen. „Der Farn hier riecht gut,“ sagt Herr Dwelk und versenkt sein Gesicht im Schuppenfarn.
Dann buchstabiert er, was, wie ich weiß, „Heidekraut“ heißen müßte. „Ich muß das ja ganz neu lernen“, entschuldigt er sich. Otto Dwelk ist seit eineinhalb Jahren blind. Grauer Star, Operation, mißglückt. „Ein Kunstfehler“, sagt er, weniger verbittert als vielmehr wütend, immer noch. „Die schlimmste Zeit“, weiß er aus Gesprächen mit Leidensgenossen, „sind die ersten zwei Jahre nach dem Erblinden. Da kann man in tiefe Depressionen fallen.“
Er ist in der schlimmsten Zeit, aber er kämpft. Er lernt jetzt nochmal lesen. Wie ein Erstklässler müht er sich mit den einzelnen Buchstaben des Blindenalphabeths herum, zählt die Punkte ab. Nur ungeduldiger. Weil er weiß, was alles vor ihm liegt. „Das wird doch nicht Latein sein“, murrt er und versucht es beim nächsten Schildchen. Und gibt auf. „Hirschzungenfarn“ springe ich ein. Ist es vielleicht Kurzschrift?
„Die muß ich kennen; vielleicht Rhododendron?“ Es ist eine Azalee. Herr Dwelk läßt die länglich aufgerollten Blätter durch die Hand gleiten. „Wenn die Blätter so schlecht aussehen, das wäre ja schlimm. Die kann einem leid tun.“ Er stößt mit dem Stock an das Rundbeet in der Mitte der Gartenanlage. Es ist bedrückend mitanzusehen, wie Otto Dwelk „kommt mir bekannt vor“ murmelt und ratlos Tagetes, Ge
hierhin bitte das Foto
von den Händen,
die am Boden tasten
ranie und Fuchsie befühlt. Es ist so entsetzlich wenig, was die Hände ihm verraten. Oder die Nase.
„Kleingärtner, das sieht schlecht aus“, meint er, als ich ihm die Namen sage. „Man faßt sowas ja sonst nie an.“ Darauf, daß er am Ufer eines Blütenmeeres steht, wäre er erst gar nicht gekommen. „Wenn's blüht, nützt das mir ja gar nichts.“
Er war, im vorigen Leben, Techniker auf der Werft, bei Lürssen. „Ein Traumjob.“ Verzweiflung scheint nicht seine Sache; der Feind heißt „Lethargie“. Keinen Schritt aus dem Haus mehr allein tun können, nicht mal
eben einkaufen können, die Bürgersteige sind so schlecht und eng oben in Aumund: Man muß sich immer wieder aufraffen.
„Ich sehe gern Talk-Shows. Und politische Sendungen. Tennis, wenn der Reporter gut ist.“ Es fällt ihm gar nicht auf, wie oft
„Was nützt es mir, wenn's hier blüht?“
er „sehen“ sagt. „Oh oh, eine ganz böse!“ Das war eine Rose. „Ich denke an die Mainzer Nachtigall, leider riecht sie nicht stark.“ Rosenblätter in der Hand: „Ein feines Gefühl.“
Immer wieder schimpft Otto Dwelk darüber, daß die Beete so niedrig gebaut sind: zum Lesen müsse er sich zu tief bücken. Bei den Gewürzpflanzen aber kommt er drauf: „Wahrscheinlich denk' ich, ich muß zum Lesen mit der Nase rangehen!“ Natürlich könnte der Blinde auch im Stehen ganz entspannt lesen — mit den Fingern.
Wenn Otto Dwelk still sein könnte, wenn es in ihm still sein könnte — er könnte Vögel hören, Hummeln, die rauschenden Baumriesen von Knoops Park; er würde die Sonne spüren, Düfte riechen von Minze und Rosmarin und sich in wolligen oder kratzigen Blättern ergehen. Herr Dwelk aber ist voller Protest. So wird er an diesem Vormittag zu meinem Führer in sein Elend und seinen Groll.
Er, der Kleingärtner. Nichts erkennt er. Nicht die gemeinste Massenblume. Nein, er wolle nicht wieder herkommen, sagt er.
Es sei zu schlimm. „Ich kann mir nichts vorstellen!“ Die Wahrnehmung ist versperrt vom alles überschattenden Gefühl des Mangels. Kleingarten, das sei vorbei. Endgültig. Kein Gedanke mehr. Zu Hause hat er sich eine CB-Funkanlage eingerichtet. „Ich möchte mich einmischen.“ Text und Foto: Burkhard Straßmann
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