: SOMNAMBOULEVARD — FRAUENGESCHICHTEN VON MICKY REMANN
Ich war so nah dran!“ Fritz, einer meiner robustesten Traumbekannten, sitzt im Somnamboulevard Café, trinkt Anisschnaps und ist verzweifelt. „Wo dran?“ frage ich. „An der Einsicht in die Natur der Frauen, zum Greifen nah!“ „Und was geschah damit?“ Fritzt seufzt gepeinigt. „Kennst Du das, wenn Du weißt, daß Du etwas vergessen hast, aber keine Ahnung hast, wie Du Dich wieder dran erinnern kannst? Die Folter ist übler, als das Vergessene ganz zu vergessen.
Es war so: Ich war in Prag, einer Stadt, um die man als Klarträumer bekanntlich nicht herumkommt, wegen der alchemistischen Hochzeit von Geist und Materie, Golems, psychedelisierten Robotern usw. Ich schwebte über die Karlsbrücke, genoß den fahl-gelben Schein der Lampen und die Klänge der trans-uralischen Straßenmusiker, als mir eine gigantische Offenbarung zuteil wurde.
Versteh mich nicht falsch, alles, was ich Dir jetzt noch berichten kann, sind winzige Scherben aus dem ursprünglichen Szenario. Ich weiß nur noch, daß es hieß, es gebe drei Sorten Frauen in Prag: die dienenden, dieopponierenden und die erleuchtenden. Es wurde mir auch anhand von äußerst plausiblen Beispielen vorgeführt, woran man sie erkennt, wie sie sich verhalten, und daß natürlich jede Frau alle drei Aspekte in sich hat und zu unterschiedlichen Zeiten mal den einen, mal den anderen nach vorne kehrt, und was das mit der Ordnung des Weltalls, mit mir, und mit der Androgynität der alchemistischen Moderne zu tun hat. Das Ganze entrollte sich als Freilichtschauspiel mit echten Menschen, und ich war so ergriffen, daß mir die Kinnlade bis in die Moldau sackte.
Darüber glitt ich in ein falsches Erwachen, das heißt, die Prager Szene verschwand und ich dachte, ,hoppla, nun bist du wach!‘ Was aber gar nicht stimmte. ich wußte zwar, daß ich eben geträumt hatte, war mir aber nicht darüber klar, daß ich es immer noch tat. Sofort griff ich in diesem Folgetraum zum Notizbuch und fing an, die Sache mit der dreigeteilten Frauennatur aufzuschreiben. Doch die Vision war schon am verblassen, ich bekam sie längst nicht mehr so schön holistisch auf die Reihe, wie sie sich im Traum zuvor präsentiert hatte. Zu allem Überfluß träumte ich dann, ich wachte ein weiteres Mal auf. Wie eine Zwiebel häutete sich mein Traumkörper in Richtung Wachsein, ohne je ans Ziel zu kommen, aber mit jeder Häutung verstärkte sich mein Gedächtnisschwund — bis die tiefe kosmische Einsicht auf Kirschkernformat geschrumpft war.
Und nun bin ich auf dem Somnamboulevard gelandet, wohl wissend, daß sowohl die Erinnerung an den ersten Traum als auch mein Notizbuch aus dem zweiten futsch sind. Oh Schmerz der rumpfartigen Offenbarung! Oh Fluch der halb gewonnenenen, halb entronnenen Weisheit! Jetzt frage ich mich nämlich bei jeder Frau, die ich treffe, ob sie gerade dient, opponiert oder erleuchtet“, sagt Fritz, die Traumgestalt. „Und?“ frage ich. „Und kriege es doch nicht raus.“
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