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Den Muff wegfegen

Wie läßt sich die Jugend eines bankrotten Entwicklungslandes für den Staat gewinnen? Senegals Präsident Diouf glaubt, die Aufgabe mit Musik und progressiver Rhetorik gelöst zu haben. Das Ergebnis ist zwiespältig  ■ VON DOMINIC JOHNSON

Gebetsstätte — Urinieren verboten“ steht in riesigen schwarzen Lettern auf der Westseite des Demba-Diop-Stadions. Die Parole bleibt unbeachtet — zu trinken gibt es sowieso wenig an diesem schwülen, heißen Sommerabend. Es ist „Fête de la Musique“ in Dakar, und die jungen Senegalesen, die sich hier zu Zehntausenden vor dem großen Vorortstadion drängen, haben keine Zeit für Baguettes und Bissap-Saft. Sie strömen zu Youssou N'Dour, Baba Maal, Ismail Lo und den vielen anderen Stars der westafrikanischen Musik, die in dieser Nacht acht Stunden lang ihre World- Music-Rhythmen in den bleiernen Himmel steigen lassen werden.

Es wird ein Konzertmonster. Die Musiker besingen ihr Land, die aufstrebende neue Generation, die „weibliche Seele Afrikas“. Thomas Sankara, der unvergessene ermordete Jugendpräsident Burkina Fasos, bekommt seine synthesizeruntermalten Huldigungen ebenso wie der alte senegalesische Nationengründer Leopold Senghor, die jetzige Regierung und sogar Dakars Bürgermeister Mamadou Diop. Irgend jemand schaltet unplanmäßig die Stadionlichter aus, auf dem Rasen vor der Absperrung kippen die ersten um, Militärs in Tarnanzügen bilden Menschenketten und schwitzen in Solidarität. „Was mir an Senegal gefällt, ist, daß es im Begriff ist, ein zweites Jamaika zu werden!“ brüllt Baba Maal in die Nacht, und 50.000 Kehlen grölen ihre Begeisterung zurück. Senegal feiert sich selbst.

Im offiziellen Diskurs ist Senegal eine große Familie. Alt und Jung, links und rechts arbeiten vereint am nationalen Aufschwung. Die „älteste Demokratie Afrikas“, wie sie sich gern nennt, sieht sich als Stabilitätsmodell in unruhigen Zeiten. Ein Land, in dem die Jugend nicht gegen das System auf die Straße geht, ist selten geworden auf dem krisengeschüttelten schwarzen Kontinent. Selbst die parlamentarische Opposition sitzt nicht in der Opposition, sondern mit in der Regierung.

Senegal ist Regime und System zugleich

„Demokratie“, pflegt der seit 1981 regierende Präsident Abdou Diouf zu sagen, „ist eine Geisteshaltung, bevor sie ein Regime ist. Sie ist ein Humanismus, bevor sie ein System ist.“ Tatsächlich ist die senegalesische Demokratie aber eben dies: Regime und System. Sie ist ein von oben gesteuerter Prozeß der Massenmobilisierung für nationale Aufgaben. Oder, wieder in den Worten des Staatschefs, „ein Regulationssystem des gesellschaftlichen Lebens“. Denn schließlich benötigt Afrika, so Diouf, „eine prometheische Vision“.

Seit 1981 hat Diouf seine Zeit damit verbracht, ein der Wirtschaftskrise angepaßtes politisches System zu schaffen. Er löste sich Schritt für Schritt von den Bonzen der alleinregierenden „Sozialistischen Partei“, förderte den Aufstieg patronageunabhängiger Technokraten und spaltete die Opposition, sobald sie sich regte, durch Einbindung in den Staatsapparat. 1988 gewann er auf umstrittene Weise die freien Präsidentschaftswahlen — nach einer polarisierten Kampagne erreichte er angeblich 73 Prozent, während Oppositionsführer Abdoulaye Wade den Sieg für sich reklamierte. Inmitten schwerer Unruhen wanderte Wade zunächst in den Knast, gleichzeitig führte aber Diouf mit ihm Verhandlungen und nahm ihn 1991 in die Regierung auf. Den Wirtschaftsproblemen begegnete der Präsident mit einem Strukturanpassungsprogramm nach Weltbankmuster, das 1985 begann und am 30. Juni diesen Jahres abgeschlossen wurde — freilich, wie selbst die Regierungszeitung Le Soleil eingestand, ohne seine Ziele erreicht zu haben.

Ein sozialistischer Präsident, der die Wirtschaft liberalisiert — das ist eine Parallele mit Jamaika, an die Baba Maal im Demba-Diop-Stadion wohl nicht dachte. Senegals Regierung ist keine Umverteilerin. Sie sieht Wirtschaftskrise und Unterwerfung unter die internationalen Geldgeber als unverrückbares Faktum an, die Anpassung des Landes an Weltbank-Forderungen als nationale Aufgabe — Diouf spricht vom sursaut national, dem nationalen Sprung nach vorn —, an der sich alle beteiligen sollen. Als Motivation für die zu 70 Prozent unter dreißig Jahre alte Bevölkerung bietet der Staat Prestige: Jedes politische und gesellschaftliche Ereignis, jede staatliche Handlung ist von vornherein einzigartig und außergewöhnlich. Das Land befindet sich in einer permanenten Kampagne, die ständig auf der Stelle tritt. Je länger die diversen Schlachten für ein besseres Bildungswesen, für mehr Sauberkeit und Moral oder für technologische Modernisierung andauern, desto grandioser der symbolische Begründungszusammenhang.

Noch nie war die Krise so offenkundig

Zwar war das Schulwesen noch nie in einem so schlechten Zustand wie heute — die durchschnittliche Klassengröße liegt bei weit über vierzig, die Lehrer drohen mit Streik, bei der alljährlichen nationalen Schülerauszeichnung konnte dieses Jahr kein einziger Naturwissenschaftspreis verliehen werden — doch während die Zeitungen die Katastrophe beklagen, begeht Präsident Diouf unverdrossen den „Tag der Feier der wissenschaftlichen Renaissance Afrikas“. Zwar war die wirtschaftliche Krise Senegals selten so offenkundig wie jetzt — doch Staatsmann Diouf ist heute nicht nur Präsident der Republik Senegal, sondern auch amtierender Präsident der Organisation Afrikanischer Einheit (OAU), der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS), der G-15- Gruppe von Dritte-Welt-Schuldnerländern und der Islamischen Konferenzorganisation. Die Hauptstadt Dakar ist daher selbstverständlich auch Hauptstadt Afrikas, auch wenn sich die geheimen Hoffnungen auf eine Verlegung des OAU-Sitzes aus Addis Abeba nach Dakar nicht erfüllt haben. Keine Woche vergeht, ohne daß in Dakar irgendein internationaler Kongreß stattfindet.

Großer Hygienesinn bei den Jugendlichen

Originellster Aspekt des Dioufismus ist jedoch die der Jugend geschenkte offizielle Aufmerksamkeit. Der Präsident, der noch 1988 während den Unruhen die „kranke Pseudo-Jugend“ verdammte, hat seither keine Gelegenheit ausgelassen, um die mehrheitlich junge Bevölkerung seines Landes, von Massenarbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit nicht weniger geprägt als die anderer unruhegeschüttelter Länder Westafrikas, vom Abgleiten in den kollektiven Aufstand zu bewahren. Der afrikanische Demokratiediskurs — Erneuerung, Verjüngung, Säuberung — ist in Senegal offizielle politische Rhetorik.

Weltweit bekannt wurde die „Opération Set-Setal“, „Operation Säuberung“: Enthusiastische Kinder und Jugendliche, die mit Besen und Schrubbern ihre Stadtviertel von Unrat befreien, Mauern anmalen, Straßen kehren und im allgemeinen, wie die Broschüre des Dakarer Rathauses behauptet, „Aktionen von großem Bürger- und Hygienesinn“ vollbringen. Den Muff von Jahrzehnten wegfegen — das klassische Bild des politischen Umsturzes wurde in den letzten Jahren in Dakar wörtlich genommen.

Die schwitzenden Jungen, die vormittags mit kaputten Handfegern zwischen den Autos im Kreisverkehr vor dem Wirtschaftsministerium herumstehen, entsprechen aber kaum den Fernsehbildern, in denen sich lachende Frauen im Reggae- Rhythmus mit Besen als Tanzpartnern wiegen. „Früher“, meint ausweichend der Fotograf Malick, „war das freiwillig.“ Heute dagegen wird man per Zeitungsannonce zum Arbeitseinsatz aufgefordert.

Set-Setal hatte zwar spontane Anfänge, während der politischen Krise von 1988, als zum allgemeinen Unmut der Ärger über das heruntergekommene Dakar kam. Schon bald erkannte jedoch die Bürokratie die Chance, das damals tonangebende Schlagwort Sopi, Wandel, durch ein unpolitischeres zu ersetzen und die Jugend in andere Bahnen zu lenken. Bereits im Mai 1989 organisierte die Stadt Dakar „Tage der Sauberkeit“, an denen alle Jugendverbände der Stadt aufgefordert waren, sich an Reinigungsarbeiten zu beteiligen. Die Aktionen wurden danach fortgesetzt. Malick: „Die ASC (Sport- und Kulturverbände, die es in jeder Gemeinde gibt) gingen von Tür zu Tür und verlangten Spenden. Damit wurden Wandfarben, Pinsel, Besen und ähnliches gekauft. Dann konnte man sich freiwillig an der Verschönerung seines Viertels beteiligen.“

Dakar glich einer gigantischen Putzstelle

Die Idee, dem urbanen Verfal mit unbezahlter Jugendarbeit entgegenzuwirken, gefiel nicht nur der Regierung, sondern auch der Weltbank. Mit 20 Millionen Dollar, zu denen andere Geldgeber nochmals dieselbe Summe hinzufügten, beteiligte sie sich an der Gründung der „Agentur für die Ausführung von Arbeiten des öffentlichen Interesses“ (AGETIP), die ab 1989 für die zentrale Koordinierung und Finanzierung der nunmehr Set-Setal genannten Säuberungsaktionen zuständig war. In der Folgezeit glich Dakar einer gigantischen Putzstelle. Spontan wurden sogar Straßen umbenannt — zum Ärger der Behörden. Und das Wort Set fand durch die gleichnamige LP von Youssou N'Dour Eingang in die Weltkultur.

„Am Anfang erzeugte dies eine Masseneuphorie“, erinnert sich Idrissa Diop, ehemals inhaftierter Oppositioneller, der heute als Journalist arbeitet. „Aber nach einer Weile begann die Jugend, sich zu distanzieren. Sie fühlte sich zu sehr vom Staat bevormundet. Außerdem war sie ja nach wie vor arbeitslos. Dazu kam, daß die Materialien oft von Beamten zweckentfremdet oder einfach auf dem Markt verkauft wurden und daß Geld spurlos verschwand.“ Ein französischer Industrieller, der eine Packpapierfabrik betreibt, hält Set- Setal insgesamt für Propaganda: „Das ist, wie wenn man ein Loch in der Wand mit Tapete überklebt. Man sieht den Schaden nicht mehr, aber er ist noch da.“

Boulmery Ba, Pressereferentin des Rathauses von Dakar, ist sich der Kritik bewußt, verweist aber auf den Finanzmangel der Kommunen. Ganz im Sinne der staatlichen Philosophie und jenseits allen Freiwilligkeitsgeredes spricht sie von Bewußtseinsmachung der Bevölkerung: „Wir verlangen von den Menschen, sich an der Entwicklung der Lebensqualität in der Stadt zu beteiligen. Wir können ja schließlich nicht alles alleine machen.“ Mittlerweile hat auch die AGETIP ihre Funktion etwas geändert. Immer noch werden, vor allem in den Schulferien, „freiwillige“ Arbeitseinsätze organisiert. Daneben liegt aber der Schwerpunkt in der Bereitstellung von Arbeitsplätzen. 55.000 ABM-ähnliche Stellen, auf sechs oder zwölf Monate befristet, gibt es dieses Jahr.

Kein Platz für die aus den Vorstädten

Wird dies angesichts der hochfliegenden Zukunftsträume Dakars ausreichen? Schon jetzt leben zwei der acht Millionen Einwohner Senegals im Großraum der Hauptstadt. Mit einer Zuwachsrate von jährlich sieben Prozent — landesweit sind es drei Prozent — wird sich die Bevölkerung des Raumes Dakar bis zum Jahr 2000 nahezu verdoppelt haben. Jeder dritte Senegalese wird dann in oder am Rande der Hauptstadt leben. „Wir sind reich im Verhältnis zu den anderen Gemeinden Senegals“, meint Boulmery Ba, „aber arm, gemessen an dem, was zu tun wäre.“

Das Ergebnis: eine rasch fortschreitende Wohlstandspolarisierung. Während die zentrale alte Kolonialstadt, hauptsächlich von Franzosen und libanesischen Händlerfamilien bewohnt, zunehmend von Überfüllung und Verkehrskollaps bedroht wird, entstehen an den weiter nördlich gelegenen einsamen Atlantikstränden weite Villenviertel mit lauschigen Alleen für die senegalesische Elite. Doch drei Viertel der zwei Millionen Einwohner des Großraums Dakar leben in abgelegenen, staubigen Vorstädten, die sich über 25 Kilometer landeinwärts in die Savanne erstrecken: endlose Wellblech- und Ziegelagglomerationen mit Namen wie Pikine und Guediawaye, die sich von den Ambitionen der Hauptstadt überfahren fühlen.

Pikine, das erst seit dreißig Jahren besteht, ist mit nahezu einer Million Einwohnern die eigentlich größte Stadt Senegals — „eine Stadt als Ergebnis des Verfalls der Hauptstadt, Asyl der Beiseitegeschobenen und Spiegel der demographischen Explosion“, wie die Pikiner Zeitung L'Enjeu schreibt. „Die Bevölkerung fühlt sich nicht im Gleichschritt mit der Entwicklung Dakars“, meint Chefredakteur Boubacar Sow, der aus der Hauptstadt in die Vorstadt ging, um Afrikas erste Banlieue-Zeitung zu gründen. „Fragen Sie einen Pikiner, was er davon hält, daß Dakar die Hauptstadt Afrikas sein will. Er wird Ihnen sagen: Was geht mich das an?“ Die Infrastruktur der Vorstadt, sagt er, entspreche immer noch einem Bevölkerungsstand von einigen zehntausend. Nebenan, in Guediawaye, habe man Siedlungen aus Reihenhäusern aufgestellt, die aber für die senegalesischen Großfamilien zu klein seien. „Wer auf dem Land wohnt und Arbeit sucht, kommt hierher zu seinen Verwandten. Aber im offiziellen Zukunftsbild ist dafür kein Platz.“

Dennoch sieht er in Orten wie Pikine die Zukunft des Landes. „Dakar, das ist nur Show. Wenn Sie das richtige Senegal sehen wollen, müssen Sie die Banlieue besuchen.“ Hier wird sich auch beweisen, ob die „prometheische Vision“ des Präsidenten Diouf die Menschen überzeugt: Im Februar 1993 sind Präsidentschaftswahlen, und die drängendsten Probleme des Landes werden bis dahin nicht gelöst sein.

„Hier wird sich nichts ändern“

Im Vorwahlkampf ist die Strategie Dioufs bereits deutlich: Nur er habe das nötige internationale Prestige, um Senegals weltweit positives Image angemessen verkörpern zu können — und ohne dies könne das Land nicht vorankommen. Oppositionelle sind sich denn auch seiner Wiederwahl ziemlich sicher. „Hier wird sich nichts ändern“, meint Idrissa Diop. „Frankreich und die USA tun alles, um Senegal finanziell soweit über die Runden zu bringen, daß Diouf einen Wert darstellt.“ Doch Dioufs eigene Sozialistische Partei, deren Generalsekretär er ist, bietet ein zerrissenes Bild. Gerade in Dakars Vororten arten Parteiversammlungen seit einigen Wochen immer wieder zu Schlägereien aus. Die Bestimmung der Kandidaten für die ebenfalls 1993 anstehenden Parlamentswahlen spaltet die von Flügelkämpfen und Klientelwirren gebeutelte Partei. Nicht selten heuert eine Fraktion Straßenbanden an, um die Gegenfraktion aus dem Parteisaal zu vertreiben.

Wer gegen Diouf antritt, ist noch nicht klar. Die Versuche der diversen Oppositionsparteien, sich auf einen gemeinsamen Gegenkandidaten zu einigen, sind bisher erfolglos geblieben.

Im Gespräch ist aber bereits eine Verfassungsänderung in dem Sinne, daß der Präsident Senegals kein Führer einer politischen Partei sein darf.

Abdou Diouf könnte dann bei einem erneuten Wahlsieg — insbesondere wenn dieser knapp ausfallen sollte — seine zerstrittenen Sozialisten fallenlassen und sich als „Führer aller Senegalesen“ endgültig zum Vater der nationalen Einheit stilisieren.

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