Manhattan im Demonstrationsfieber

50.000 gegen die Aids-Politik der Bush-Administration/ Kundgebungen als Wahlveranstaltungen für Clinton  ■ Aus New York Andrea Böhm

Nicht daß im Saal des Madison Square Garden Langeweile herrschen würde. Aber die wirklich großen Massen tummeln sich außerhalb des Parteitages auf New Yorks Straßen. Am Dienstag zum Beispiel waren es 50.000, die zwischen Wolkenkratzern und überdimensionalen Leuchtreklamen auf dem Broadway gegen die Aids-Politik der Bush-Administration demonstrierten. Den größten Beifall ernteten nicht Jimmy Carter, Jesse Jackson oder Jay Rockefeller auf dem Parteitag, sondern einer, dem sie auf dem Broadway eine Lautsprecherbox unterschieben mußten, damit er überhaupt ans Mikro kam. „Hi, ich bin Joey. Ich werde in ein paar Wochen 13, und ich habe Aids.“ Und dann erklärte der Junge aus Brooklyn den Versammelten, was er von der staatlichen Aids- Politik und der Bush-Administration hält — nämlich nichts. Als er schließlich etwas unsicher von der Bühne trat, da klatschten die Menschen, bis ihnen die Hände wehtaten.

Manhattan befindet sich zur Zeit im Demonstrationsfieber. Die Einwohner stört das nicht weiter — ob die Straßen nun mit Autos oder Menschen verstopft sind, ist ihnen relativ egal. Nur durch ein paar Blocks getrennt, marschieren zur gleichen Zeit Arbeitslose, hält die „Nationale Vereinigung für Psychisch Kranke“ eine Kundgebung ab und beginnen Anarchisten ihrem Anti-Parteitags-Konzert im Central Park. Die obdachlosen Vietnam-Veteranen laden zur Pressekonferenz auf ein altes Kriegsschiff ein, während Nostalgiker im Washington Square Park die Tradition des „Smoke-Ins“ wiederaufleben lassen.

Anlaß zum Demonstrieren gibt es zweifellos genug. Im Vorfeld der „Convention“ prophezeite die New Yorker Village Voice sogar einen kleinen Nachgeschmack zur Revolte in Los Angeles: Wenige Tage vor dem Einzug der Demokraten in den Madison Square Garden hatte ein weißer Polizist im Stadteil Washington Heights einen Schwarzen erschossen. Washington Heights erfreut sich seitdem einer ungewöhnlich massiven Polizeipräsenz, die die Bewohner im Alltag vermissen, wenn Drogendealer auf der Straße ungestört ihren Geschäften nachgehen können.

Auch sonst müssen sich weder Parteileitung noch Delegierte Sorgen machen, daß der Protest auf der Straße wie 1968 in Chicago in Straßenschlachten enden könnte. Damals waren rund 10.000 Hippies, Studenten und Linke aller Coleur angereist, um den Demokraten ihre Opposition zum Vietnam-Krieg und ihre Abneigung gegen das korrupte politische Establishment kundzutun. Sie rannten sich buchstäblich die Köpfe blutig — an der Parteimaschinerie und an den Knüppeln der Chicagoer Polizei.

„Dieses Mal“, sagt Ed Ott, linker Gewerkschafter und Mitglied der „Mehrheitskoalition für ein neues New York“, „herrscht eine große Enttäuschung über die Parteiführung der Demokraten. Aber es gibt nichts und niemanden, der die verschiedenen Gruppen mit ihren Anliegen zusammenbringt.“ Die Zeiten von Jesse Jacksons „Regenbogenkoalition“ sind vorbei.

In New York sind die Karten neu gemischt worden: Wer dieser Tage die großen Demonstrationen auf die Beine stellt, vor allem Frauengruppen und Aids-Organisationen, ist nicht daran interessiert, die Parteitagsmitglieder vor den Kopf zu stoßen — im Gegenteil. Der „Aids Unity March“, von „Act Up“ und über 200 weiteren Gruppen getragen, war ein Medienspektakel, das ebenso professionell organisiert war wie der Parteitag. Und er war eine Wahlveranstaltung für Bill Clinton und dessen Versprechen in Sachen Aids-Politik und Gesundheitsreform. Zwei Stunden später präsentierte die Parteitagsleitung im Madison Square Garden ihre Gegenleistung: Vor laufenden Kameras eröffnete Bob Hattoy, Berater des Präsidentschaftskandidaten, seine Rede mit der Begrüßung: „Ich bin schwul und habe Aids.“ In den Rängen gingen Schilder mit der Aufschrift „Schwule und Lesben für Clinton“ in die Höhe. Hattoy schloß eine beeindruckende und emotionale Ansprache mit den Worten: „Wir müssen dieses Mal wählen, als ob unser Leben davon abhängt.“ Der Beifall wollte kein Ende nehmen, vielen Delegierten rannen die Tränen über das Gesicht. So manchen Wahlkämpfer im Clinton-Team treibt da die Angst um, die eigene Partei könnte wieder einmal zu sehr in den Ruf geraten, Hafen für alle Randgruppen, aber nicht für den Durchschnittsamerikaner zu sein. Doch diesen Balanceakt kann sich Bill Clinton zur Zeit leisten: Mit seiner bedingungslosen Unterstützung der Todesstrafe, seiner Rhetorik gegen langjährige Sozialhilfeempfänger, aber auch seinem Wirtschaftsprogramm hat er die Partei kräftig in die politische Mitte geschubst. Und an der Spitze des Wahlkampfs steht neben Clinton mit Al Gore ein zweiter Vertreter des mainstream: weiß, männlich, mit untadeligem Familienleben und Gattin Tipper Gore, die ihre ganze Energie darauf verwendet, Amerikas Jugend vor obszönen Songtexten zu schützen.

Der Durchschnittsamerikaner in den Suburbs, den die Aussicht auf schwule und möglicherweise aidskranke Mitglieder einer zukünftigen Clinton-Administration eher abschrecken dürfte, saß zur entscheidenden Zeit ohnehin vor einem anderen Programm: Hattoys Rede war genau zu der Zeit angesetzt, als live auf anderen Kanälen der Hit des Jahres, das „All-Star“-Baseball-Spiel übertragen wurde.